Felsenwildnis – Meeresweite

Im Buch „Die Frage nach Gott“ zitiert Hoerster Malwida von Meysenbug, eine mit Nietzsche und Richard Wagner befreundete Schriftstellerin, mit folgendem Erlebnis am Meer. Im Buch geht Hoerster v.a. der Frage nach, ob dieser Bericht als ‚Begegnung mit Gott‘ angesehen werden kann. Er kann es nicht, sagt der Autor, aber sie liegt mehr auf „meiner Wellenlänge“ als das davor angegebene Beispiel. Daher hier der schöne Text von Malwida von Meysenbug, im Anschluß ein Text von mir zum gleichen – oder zumindest einem ähnlichen – Thema.

„Ich war allein am Meeresufer, als mich alle diese Gedanken befreiend und versöhnend umfluteten, und wieder, wie einst in fernen Tagen in den Alpen der Dauphiné, trieb es mich, hier niederzuknien vor der unbegrenzten Flut, Sinnbild des Unendlichen. Ich fühlte, daß ich betete, wie ich nie zuvor gebetet hatte, und erkannte nun, was das eigentliche Gebet ist: Einkehr aus der Vereinzelung der Individuation heraus in das Bewußtsein der Einheit mit allem, was ist, niederknien als das Vergängliche und aufstehen als das Unvergängliche. Erde, Himmel und Meer erklangen wie in einer großen weltumfassenden Harmonie. Mir war es, als umgebe mich der Chor aller Großen, die jemals gelebt hatten. Ich fühlte mich eins mit ihnen, und es schien mir, als hörte ich ihren Ruf: ‚Auch du gehörst zu der Gemeinschaft derer, die es geschafft haben!‘ „
(zit. nach Hoerster (wied. zit. nach James, Die Vielfalt religiöser Erfahrung, Frankfurt / M., 1997))

SchlernStille.
Nur Stille.
Weitester Blick zu den Schneebergen vor den Wolken.
Unendlichkeit im Sonnenstrahl,
der meine Haut trifft, bräunt.
Die glänzenden Schuttfelder und der weiße Fels,
auf dem ich sitze,
erzählen die Geschichte von der
Großartigkeit der Einsamkeitswelt –
wenn nur der Wind weht,
Glockengeläut herauftragend.

Auf einem Berg vor mir im Gegenlicht
hebt sich winzig ein Mensch
gegen den Horizont ab.
Nachdenklich,
innig betrachtend
schaut auch er in die dunstige Ferne,
wo Täler und Berge zu schweigenden Schatten
verschmelzen.
Nichts scheint ihn davon abhalten zu können,
in die Stimmung der Natur einzutauchen;
er wird zu einem Sandkorn inmitten der Felsenwildnis.
Er wird selbst zu einem Schatten, einer Skizze und
gleitet ab in die Ichlosigkeit.
Er erhebt sich und
fliegt gleich dem Kolkraben,
der laut krächzend sich vom Wind
in die Höhe herauftragen läßt
und um den Gipfel der
Roterdspitze kreist.
Er wird zur Nichtform eines ewigen Seins.
In hunderten von Jahren schwebt
ein Fragment seiner Existenz noch immer
lautlos über diesen herrlichen Gipfeln.

Eine Wolke verdunkelt die Sonne.
Als ich aufsehe zum gegenüberliegenden Grat,
ist die Gestalt verschwunden.
Ich sah mich selbst.

[© Mittelwächter. | Schlern, 2564m]
[Das Foto zeigt den Schlern 2021 von Süden zum Brenner hochfahrend.]

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