[Die Seite ist Teil des Berichts über meinen Camino Francés 2015.]
Weg bis Foncebadón
Ich weiß nicht mehr, wieso ich morgens früh im Aufenthaltsraum der Herberge saß, also auf was ich möglicherweise wartete, aber dort klang dann, wie im Rest des Gebäudes, gregorianischer Gesang aus den Lautsprechern, um die Pilger zu wecken. Das war schon sehr „stylish“. Gleich im Anschluß brach ich auf und verließ Astorga, wobei ich an einer modern aussehenden Kirche vorbeikam, an deren Wand ich ein Mosaik mit folgendem Spruch fand:
Peregrino: Que el cansancio del Camino nunca te impida pensar. ¿Es lo importante la meta? ¿No será acaso el encuentro con el monte, el río, con el rumbo que has perdido… con el mismo dios quizás?
(Pilger: Möge die Müdigkeit des Weges dich niemals vom Denken abhalten. Ist das Ziel wichtig? Wird es nicht eher die die Begegnung mit dem Berg sein, dem Fluß, mit der Richtung, die du verloren hast … vielleicht mit demselben Gott?)
Da der Spruch auch auf dem Foto, das ich gemacht hatte, nicht so gut zu lesen war, suchte ich für diesen Bericht noch einmal im Internet danach. Er findet sich auf verschiedenen Seiten, aber oft ein wenig abgewandelt – und das genau da, wo für mich der Schwerpunkt liegt: el mismo dios – derselbe Gott. Ich war ja so viele Jahre von diesem (christlichen) Gott meiner Kindheit entfernt, und hier fand ich ihn doch wieder auf der Pilgerstraße in Richtung Santiago – oder, besser ausgedrückt: ich fand ihn in mir und trug ihn bewußter mit mir auf dem Weg nach Santiago. Ja, ich hatte „Richtung verloren“, aber hier ging es immer auf schöner, gelb markierter Bahn gen Westen, da wird man auf eine Richtung eingestimmt, die man dann mit dem ganzen Körper geht, in die man quasi eintaucht. „Derselbe Gott“ – diese Worte, standen für meine späteren Empfindungen am Cruz de Ferro. (Und ich schreibe dies mit Gänsehaut auf den Armen.)
Doch viel dachte ich jetzt darüber nicht nach, denn es war kalt an diesem Morgen, aber zum Glück hatte ich meine Handschuhe. Wie ich es gerne tat, sprach ich ein Memo während des Gehens auf, in dem ich anmerkte, daß nun endlich die Sonne über der Maragatería aufgegangen war und es nicht mehr so kühl sei. Es ging dann durch sehr offenes Brach- und Heideland, rechts vom Weg sah ich im Sonnenlicht die Häuser des Örtchens Castrillo de los Polvazares liegen. Da wäre ich gerne hingegangen, habe aber wohl irgendwo in Astorga den Abzweig verpaßt. Bei diesem Ort lag das Anwesen von Denises Mörder, was mich an diesem Morgen hier in dem einsamen Landstrich beschäftigte (s. diese Seite).
Ich kam durch kleine Örtchen, die ihrer Natur nach schon wie Bergdörfer aussahen: Santa Catalina de Somoza, wo ich Peter kurz wiedertraf, der sich hier an dem Haus mit der vielfotografierten blauen Tür, wo es Camino-Devotionalien (Stöcke, Muscheln, Patches, Kalabassen) zu kaufen gibt, für seinen Pilgerstock einen kleinen Flaschenkürbis kaufte. In diesem Ort sah ich auch die erste Triskele, das aus dem keltischen Kulturraum bekannte Symbol mit den drei radialsymmetrischen Armen. Ich kam Galizien definitiv näher.
Weiter durch El Ganso, immer mit herrlichen Blicken auf die offene, nun bergige Landschaft. Viel Buschwerk, nur kleine Wäldchen, Heidekraut und dann auf einer langen Strecke entlang eines Zaunes hunderte von Kreuzen, die aus Ästen und zum Teil Stoff in die Maschen geflochten waren. Das war sicher einer der schönsten Abschnitte meines bisherigen Caminos. Ich blieb immer wieder stehen, um mir Kreuze genauer anzuschauen.
Bald kam ich nach Rabanal del Camino, meinem anvisierten Tagesziel nach 20 Kilometern. Das war ein „Klacks“ bis dahin, alles lief rund. Doch dann fand ich keine schöne, passende Herberge in diesem Ort. Die Municipal wirkte etwas „siffig“, und obwohl ich schon einen Teil meiner Sachen ausgepackt hatte, verstaute ich alles wieder im Rucksack und ging weiter (ein Schild besagte, man solle sich einrichten, abends komme der Hospitalero, was mich an El Burgo Ranero erinnerte). An der Benediktiner-Herberge sprach ich mit einem aus Deutschland stammenden Pater, der mir sagte, die dreitägigen Exerzitien, für die man im Kloster bleiben könne, würden derzeit nicht angeboten, weil der Abt auf Reisen und er selbst nur als Aushilfe und Gast hier vor Ort sei. Das war schade, weil ich seit längerer Zeit überlegt hatte, meine bisher aufgesparten Ruhetage hier zu investieren und für drei Tage zu bleiben. Nebenan war die von Engländern betriebene Herberge Gaucelmo, die erst in zwei Stunden öffnen würde. Es standen schon gut 10 Rucksäcke als „Platzhalter“ vor der Tür. Hmm, was sollte ich tun? Zunächst kaufte ich in einem kleinen Laden in einer Seitenstraße Brot und Wurst, aß im Garten auf versiert selbstgebauten Holzbänken mein Bocadillo, trank eine Cola – und faßte den Entschluß, jetzt bis Foncebadón weiterzugehen.
Hier möchte ich darauf hinweisen, daß die Angaben im Brierley-Führer (Brierley 2015) aus meiner Sicht oft überzogen sind. Immer ist von „steilem Anstieg“ die Rede, von „beschwerlichem Weg“. Aber ich war nach einer Stunde und 5,5 Kilometern in Foncebadón ohne irgendein Konditionsproblem. Problematisch waren höchstens die schon erwähnten Mountainbiker, die auf engem Bergpfad von oben heruntergerast kamen, so daß die Pilger immer wieder zur Seite springen mußten. Auf diesem Teilstück traf ich eine Amerikanerin, die ihr Gepäck auf so einer Mischung aus Trolley und Leiterwagen hinter sich herzog. Wir sprachen kurz darüber, sie war sehr angetan davon, nichts tragen, sondern nur ziehen zu müssen, aber es sah für mich schon recht beschwerlich aus, zumal die Räder immer wieder an Steinen hängenblieben und sie dann nachhelfen bzw. anheben mußte. Aber auf ebener Strecke ist das sicher eine gute Alternative.
Foncebadón ist ein von den Toten auferstandener Bergort, in dem es wieder ein paar Herbergen gibt, sonst aber auch nichts. Für morgen war Regen angesagt, viel Regen. Also checkte ich in die Herberge La Posada del Druida ein, was „Reich des Druiden“ bedeutet. Der „Druida“ ist ein männlicher Druide, eines der männlichen Worte im Spanischen, die auf -a enden. Das fiel mir erst später auf, denn auf meinem Memo sprach ich noch davon, beim „Druid Girl“ untergekommen zu sein. In einem schönen, neuen Anbau hinter dem Haupthaus fanden sich die Stockbetten, wobei ich einen schweigsamen Kerl unter mir liegen hatte, der gar nichts sagte, auch nicht grüßte, dafür aber einen Berg von Ausrüstung um sein Bett herum auf dem Boden „drapiert“ hatte.
Zum Cruz de Ferro
Der Entschluß war gefaßt: Schnell eine Cola vom Hospitalero gekauft, dessen Eltern oder Schwiegereltern zu Besuch waren und mit ihm in der Wohnküche saßen. Rucksack aufs Bett und mit Kamera und Jacke los – auf den Weg zum Cruz de Ferro. Denn heute konnte ich das Kreuz, auf das ich mich so freute, das in einem gewissen Sinn fast schon Höhepunkt meiner Pilgerreise war, noch im Sonnenschein sehen, denn am nächsten Tag sollte es ja aus Eimern schütten. (Ich schreibe dies und meine Augen werden feuchter…)
Zwei Kilometer waren es noch bis zum Kreuz. Hinter mir das flache Land bis Astorga, auf das ich von meinem Standpunkt auf ca. 1450m herabschauen konnte. Stromleitungen zogen lange Schneisen über die bewaldeten Hügel, es kam Dunst auf, der auf den Wetterwechsel hindeutete.
Vor mir ragte das Kreuz dann schon über die Wipfel der umgebenden Fichten heraus. Mein Herz raste, ich lief fast schon über den Weg, um endlich an meinem Sehnsuchtsort anzukommen.
Ich sprach am Anfang schon von den Wohlfühlpunkten. Drei Bilder hatte ich vor meinem Camino im Kopf, drei Orte, die meine Sehnsucht nach dem Jakobsweg ausmachten. Das war die Figurengruppe auf dem Alto del Per-dón hinter Pamplona, das war der Blick über die Meseta beim Abstieg vom Mostelares hinter Castrojeríz, und zuletzt eben das Cruz de Ferro. Es ist üblich, hier einen von zu Hause mitgebrachten Stein, mit dem man symbolisch auch seine „Sünden“ hinter sich läßt, wie es im Gebet, das man am Cruz sprechen kann, heißt:
„Herr, möge dieser Stein, Symbol für mein Bemühen auf meiner Pilgerschaft, den ich zu Füßen des Kreuzes des Erlösers niederlege, dereinst, wenn über die Taten meines Lebens gerichtet wird, die Waagschale zugunsten meiner guten Taten senken. Möge es so sein.“
Da meine Heimat im rheinischen Schiefergebirge liegt, war ein kleines Schieferplättchen mein Stein, den ich hier ablegte. Hinzu fügte ich einen Anstecker der Virgen Peregrina, den ich in Sahagún gekauft hatte, da mich diese Marienstatue in Pilgerkleidung fasziniert hatte.
Mit nun langsamen Schritten ging ich auf das auf einem Hügel aus Erde und Steinen stehende Kreuz zu. Mir gingen die Augen über, Tränen liefen über meine Wangen, ich war erfaßt und doch gehalten zugleich. Es hatte mich hierhin getrieben, ich mußte heute noch hier ankommen. Wenn ich nachdachte, was mich zum Camino „getrieben“ hatte, dann fiel mir als erstes das Bild dieses so schlichten wie letztlich imposanten Kreuzes ein. Hier wollte ich hin und ich wußte, daß ich bis hier schon etliche Kilometer „in den Beinen“ haben würde. Hier wüßte ich, so dachte ich vorher, ob mein Camino ein guter wäre oder nicht.
Vor dem Kreuz blieb ich stehen und betete. In meiner ganz eigenen Art sprach ich mit diesem Gott, der mir jetzt wieder so nah war. Und doch war er auch fern, was ich beklagte, so wie Charles de Foucauld schrieb, daß er gerne glauben wolle, daß Gott ihn liebe, aber Gott würde ihm das ja nie sagen… In dieser hochemotionalen Situation, die ich hier nicht im Ansatz in Schriftform wiedergeben kann, sprach ich laut mit Gott und mit mir selbst. Ich erkannte, daß ich ungeachtet meines „Camino Blues“ der letzten Woche diesen Camino bis hier in einer Hochstimmung und Einfachheit erlebt hatte, die ich so vorher in meinem Leben nicht gekannt hatte.
Ja, hier hatte ich heimgefunden. Niemand legte mir Steine in den Weg, so war das bis jetzt hier zum Cruz de Ferro. Und das was eine „superschöne“ Erfahrung, wie ich mit bewegter Stimme Minuten nach der Ankunft meinem Memo anvertraute. Zum ersten Mal spürte ich hier aber auch, daß die Pilgerschaft bald zu Ende sein würde: nur noch anderthalb Wochen, das, wie ich hoffte, intensive Erlebnis Galizien, dann wäre ich am Ziel. Das konnte und wollte ich mir jedoch noch nicht vorstellen.
De facto markierte das Cruz de Ferro aber auch einen Wendepunkt. Ich spreche von Hochstimmung und Einfachheit und denke an das zurück, was ich in der Rioja erlebte: diese Demut, das Sich-Öffnen anderen gegenüber, Ruhe und Ergriffenheit, dann natürlich auch die „Lektionen“ in der Meseta – ganz so, wie es die Beschreibungen der Wegabschnitte ja auch schildern. Die Meseta war zwar nicht mein „spiritueller Tod“, aber sie war Angriffszone, Prüfzone, Bewährungszone; in ihr, an ihrem Ende lag mein „Camino Blues“. Irgendwann an diesem Ende der Meseta wußte ich, was „der Fuchs als Fuchs zu tun habe“, was ich als Mensch zu tun habe, um im Augenblick präsent und glücklich zu sein. Der Wendepunkt kam nun in den nächsten Tagen, und ich mußte feststellen, daß der für diesen Bericht gewählte Titel, „Heimfinden“, doch auch ein Fragezeichen bekommen mußte.
Das Cruz de Ferro steht an einer Paßstraße auf ca. 1500m, dem höchsten Punkt des Camino Francés. Man könnte gemütlich mit dem Auto hochfahren, man mußte nicht, wie ich sarkastisch auf dem Memo anmerkte, von St. Jean aus „latschen“. Das Kreuz ist umgeben von einer Unmenge kleiner Dinge, die ich alle gar nicht nennen kann: Bänder, Schleifen, Stöcke mit eingeritzten Zeichen, Sterbebildern, Aufklebern, Rosenkränzen, Steinen mit Wünschen („Beates Wunsch: den Krebs besiegen“), Muscheln, Zetteln – allem Möglichen. Ich nahm mir lange Zeit, um von einigen der Objekte Nahaufnahmen anzufertigen.
Ich möchte hier ein schönes Zitat von Codd (Codd 2008) einfügen – so habe ich es auch empfunden, dieses „Begleitetsein“:
„And this crucifix that makes me know who I am and what I am doing here: it breathes as I breathe. I have a sense of being accompanied in all this. No more than that: just accompanied. Accompanied by the good earth, by my feet, by the icon of Jesus up there.”
Ich sprach mit ein paar Spaniern, die in Santiago wohnen und mal eben eine Radtour hierher gemacht hatten. Sehr unangenehm fiel ein italienischer Radfahrer auf, der mit seiner deutschen, weiblichen Begleitung lautstark, ja lärmend redete. Also zog ich mich ein wenig zurück, schaute mir die kleine Kapelle (von außen) an, wo ich in die Bodenplatten eingeritzte Jahreszahlen las, die bis in die 1970er zurückgingen. Ich saß lange auf einer Bank, ließ Kreuz und Hügel aus der Entfernung auf mich wirken. Dann wanderte ich zurück nach Foncebadón.
Als ich zurückkam in die Posada del Druida lag Peter in einem der Betten nahe bei meinem. Freude auf beiden Seiten und gleich die Überlegung, wo wir etwas Essen gehen könnten. Also raus vor die Tür, ein bißchen im Ort fotografiert, da trafen wir Hartmut. Also gingen wir in die Herberge, in der er untergekommen war, deren Bar-Bereich rustikal wie eine Skihütte eingerichtet war. Auf dem großen Fernseher lief Rugby, das eine Gruppe Kanadier laut kommentierend verfolgte. Hartmut fragte den Wirt, ob wir hier zu dritt das Pilgermenü mitessen könnten, was überhaupt kein Problem war. Für sage und schreibe nur 7€ habe ich hier eines der leckersten Menüs (mit Tortilla) meines ganzen Caminos gegessen!
Wir sprachen den ganzen Abend – es war sehr unterhaltsam und entspannt. Ich erfuhr, daß Hartmut Reiki-Lehrer ist und auch Peter damit Erfahrung hatte. Man erklärte mir das Prinzip, aber ich war eher der „ungläubige Thomas“. Wie dem auch sei, Hartmut empfahl mir hier ein Buch, das ich mir später, nach der Heimkehr kaufte und las, so daß ich zumindest der Theorie nach weiß, was mit Reiki gemeint ist. Mein „Ding“ ist es aber nach wie vor nicht. Nebenbei wurde mir klar, daß auch Hartmut an einer Erkrankung litt, was zum Teil die Bindung zwischen ihm und Peter erklärte.
Nach schönen Stunden gingen Peter und ich unter einem sternenklaren Himmel durch das schweigende Bergdorf zurück zu unserer Herberge. Ich schlief gut, auch wenn ich schlechte Träume hatte. Mitten in der Nacht wurde ich wach und hörte ihn schon, den Regen.
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Ein Gedanke zu „Astorga bis Foncebadón (CF31)“
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