Atapuerca bis Burgos (CF20)

[Die Seite ist Teil des Berichts über meinen Camino Francés 2015.]

Weg bis Burgos

„Meine“ Schweden packten früh zusammen, also stand auch ich auf. Eine Frau sagte mir noch, wie bewundernswert sie es fände, daß ich den ganzen Weg ab St. Jean „allein“ gehen würde. Das wäre auch ihr Traum, aber in diesem Jahr sei sie nur das Teilstück in der geführten Gruppe gegangen. Sie wolle aber für „den Rest“ wiederkommen.
In vielen Erlebnisberichten vom Jakobsweg kategorisieren die Autoren die Menschen einer jeweiligen Nationalität so, wie es oft Stereotypen entspricht. Die Deutschen kommen da nicht so gut weg, sie gelten als frühaufstehende „Plastiktüten-Raschler“ und generell als etwas förmlich und überkorrekt. Die Schweden waren so, wie ich sie in mehreren Urlauben in ihrem Heimatland kennenlernen durfte: herzlich, unkompliziert (und auch das ist pauschal ausgedrückt).

Da es in der Herberge kein Frühstück gab und noch kein Laden aufhatte, ging ich eben ohne Frühstück hinaus in die Dunkelheit; es war gerade mal 6:30 Uhr. Bald hinter Atapuerca führte der Weg hoch auf einen kleinen Berg, von wo man in der Ferne die vielen Lichter von Burgos sehen konnte. Ich rastete oben am Cruz de Matagrande, um einen Franzosen loszuwerden, der keine eigene Lampe hatte und mir daher beim Aufstieg immer unangenehm nah auf den Fersen geblieben war – quasi mit seiner Nase an meinem Rucksack hing. Jetzt sollte er mal vorgehen… Grundsätzlich wäre das ja kein Problem gewesen, aber wer mir so eng hinterherhechelt, ohne mal kurz zu fragen, der nervt nur. (Ja, diese komplizierten Deutschen…)

Ich will noch etwas zu diesem Gehen bzw. Pilgern schreiben, dem ich hier in Schriftform absolut nicht gerecht werden kann. Wie ist das im Tagesverlauf?
Also ich gehe morgens los und benötige ungefähr eine Stunde zum Warmlaufen. In den Gedanken bin ich dann oft noch bei der Herberge, die ich gerade verlassen habe oder bei den Orten, die ich passieren, und der Herberge, in die ich einkehren werde.
Ist die Stunde vorbei, bin ich im Rhythmus, der Kopf wird frei und ich beginne mit Singen oder Beten.
Im Anschluß kommt so eine „Problembehandlungsphase“, in der ich mit mir, Gott, dem Schicksal, den Menschen ins Gericht gehe und schaue, welchen Platz ich in dieser Welt einnehme, wo ich herkomme und wo ich noch hingehen möchte. Das sind zum Teil so private Dinge, daß ich sie hier nicht wiedergeben werde. Ich habe z.B. in den letzten Tagen zwischen Grañon und Burgos viel Zeit mit dem Thema meiner Ehe und der Beziehung zu meiner Frau verbracht. Und als Nicht-Pilger kann man sich vielleicht gar nicht vorstellen, wie offen das monotone Wandern den Geist für Geistesblitze, für sinnhaltige Eingebungen macht. Es gab mehrere Momente, in denen plötzliche Einsichten mir Tränen in die Augen trieben. Und manchmal glaubte ich auch, in solchen Momenten Gottes „Stimme“ zu vernehmen (nicht wirklich in Worten vermittelbar).
Dann werde ich wieder stiller, das Nachdenken oder auch laute Reden, ja, manchmal Schimpfen mit mir selbst hört auf, ich gerate in eine Art Trance beim Gehen. Bei ungefähr 10 Kilometern mache ich gern eine kleine Pause, auch um die Füße mal an die Luft zu halten.
Nach weiteren ein oder zwei Stunden übernimmt dann zunehmende Müdigkeit das Ruder und manchmal zieht sich dann der letzte Kilometer ziemlich hin.

Meine Packliste hatte ich immer wieder verbessert, aber erst in Spanien fielen mir Dinge auf, an die ich vorher nicht gedacht hatte. Da war z.B. meine Trinkflasche, die zu Hause regelmäßig in die Spülmaschine kommt. Das ging hier natürlich nicht, so daß sie anfing, unangenehm nach Bakterien zu riechen. Ich hatte sie bis hier kurz vor Burgos mitgeschleppt, auch wenn ich schon Tage nicht mehr aus ihr getrunken hatte. Aber jetzt überkam mich noch einmal das Gefühl, mich vor der Meseta „sortieren“ zu wollen, also noch einmal Ballast abwerfen zu wollen, nicht nur seelisch, sondern auch ganz materiell. Schweren Herzens trennte ich mich von der Flasche und stellte sie so auf einen Steinhaufen, daß jemand sie finden und mitnehmen könnte, wenn er sie mochte.
Überhaupt ist es nicht immer der Ballast in Kilogramm, der reduziert werden sollte. Bernhard Pichler (2016) schreibt: „Es war nicht vorwiegend das Gewicht, das ich mit jedem einzelnen zurückgelassenen Gepäckstück reduzierte – es war jedes Mal eine Sorge weniger.“

Im Örtchen Villaval kam ich im Halbdunkel an der Kirchenruine vorbei, in deren verfallenem Turm noch die Glocke hing. Statt Glockengeläut krächzten von oben zwei Raben herab in den diesigen Morgen. Cardeñuela Riopico kam in Sicht und gleich am Ortseingang eine „Bocatería“ mit angeschlossener Herberge. Oh, das duftete herrlich nach frischem Kaffee und allerlei Backwaren; die Auslagen waren bis obenhin gefüllt. Ich deckte mich ein (Bocadillo mit Schinken und Rührei – lecker!) und bestellte ein Puddingteilchen dazu. Irritiert sah ich, wie die Verkäuferin mit dem Teilchen nach hinten verschwand und es in eine Mikrowelle steckte… OK, die ißt man also in Spanien warm und mit Löffel…
Weiter ging es durch Ödland am Flughafen von Burgos vorbei, wo wilde Hunde ihr Dasein fristen. Ich war mir zunächst unsicher, ob sie eventuell bissig sein könnten, aber die, die ich erlebte, waren tiefenentspannte, wenn auch hungrige, ausgemergelte Gesellen. Kurz danach kam ich an die Kreuzung, wo ich den Weg zum Fluß suchen mußte. Suchen? Riesige Schilder wiesen auf den „RÍO“ hin… Wenn ich mir überlege, wieviele Leute mir nachher sagten, sie hätten die nicht gesehen…

„Park“ ist wieder so ein wenig schmunzelnd-euphemistisch zu verstehen: in Deutschland würden wir Bauerschließungsland sagen, also zumindest zum ersten, stark überwachsenen Teil. Auf Höhe der Innenstadt wurde daraus schon eine richtige Parkanlage. Der Weg war angenehm zu laufen, aber er zog sich doch – was vielleicht auch meiner Erwartungshaltung in Bezug auf Burgos geschuldet war. Irgendwann überquerte ich den Arlanzón, ging in die Innenstadt mit ihrer Hektik aus Lieferfahrzeugen, Fußgängerampeln und Menschenmassen – und stand gegen 12 Uhr vor einer Pilgerschlange aus mindestens 70 Menschen vor der städtischen Herberge… Jetzt hieß es warten, eine ganze Stunde, bis ich einchecken konnte. Die Casa del Cubo, wie die städtische Herberge heißt, konnte so um die 150 Pilger in ihren neu renovierten Sälen aufnehmen. Die Stockbetten standen zu je vieren abgetrennt von den anderen, so daß ein bißchen Privatsphäre entstand, also mehr als in manchen anderen Häusern. Ein mit mir ankommender Kanadier sprühte seine Matratze als erstes intensivst mit Insektenspray (gegen Bettwanzen) ein: „Don’t know if it helps, better do it anyway…“
Ich ging schnell duschen, was bei all den gerade eingetroffenen Pilgern nur kaltes Wasser bedeutete. Die Herberge und dieser Umstand erinnerten mich sehr an Roncesvalles am Anfang der Pilgerreise. Nun war der erste Teil bis zur Meseta abgeschlossen, was sich in ähnlichen Herbergen und kaltem Wasser manifestierte. Ich wusch aber heute meine Kleidung nicht, weil es keine Trockenmöglichkeit gab und machte mich gleich auf nach draußen, um die Kathedrale zu sehen.

Burgos

Fotos, auf denen ich zu sehen bin, sind immer wieder „Thema“ für mich, weil ich mich nicht gerne auf Fotos sehe und generell keine Fotos von mir benötige. Es gibt ganze Urlaubsfotosammlungen, auf denen alle Beteiligten häufig zu sehen sind – außer meiner Wenigkeit. Ich kann mich erinnern, daß Shamous, der Ire, mich fragte, ob er mich fotografieren solle, und irritiert war, als ich verneinte und das kurz erklärte. Aber hier, vor der Kathedrale, wollte ich doch explizit ein Foto von mir und bat zwei Pilgerinnen darum, bevor ich die Treppen zur Plaza Santa María hinabstieg und erst einmal ein Restaurant aufsuchte. Ich saß dann draußen mit vielen Touristen und Pilgern vor der beeindruckenden Kulisse der Kathedrale und genoß ein paar Schinken-Croquetas. Aus einer Unterführung links von mir schallte herrliche Geigen-Musik heraus. Später ging ich nachschauen und gab der jungen Künstlerin ein paar Euro.

Die Kathedrale erkundete ich mit Audio-Führer in aller Ruhe. Das im Jahr 1221 begonnene Bauwerk (unter anderem gab es einen Baumeister „Hans von Köln“), das im 16. Jahrhundert fertiggestellt wurde und als herausragendes Beispiel gotischer Baukunst gilt, ist in einen Hang gebaut, daher auch die schmucke Goldtreppe (Escalada dorada) im Innern.
Sie beherbergt etliche kleine und größere Kapellen, die den großen Raum strukturieren. Im Zentrum vor dem Hauptaltar zu Ehren der Stadtheiligen María Mayor liegt das Grab von Rodrigo Díaz de Vivar – genannt El Cid – und seiner Frau Doña Jimena (beide um 1045 geboren, er starb 1099, sie 1116).
Beeindruckend fand ich die Matamoros-Darstellung in der Capilla de San Juan Bautista y Santiago sowie den Kreuzgang. Da diese Darstellung heute politisch nicht mehr korrekt ist, sieht man sie in der Kathedrale von Santiago mit großen Blumentöpfen verdeckt.

Schön ist es, daß man den größten Teil der Kathedrale für Touristen zur Besichtigung freigibt, aber zwei (größere) Kapellen nur dem „culto“ vorbehält, also Menschen, die Beten oder die Messe feiern wollen. In diesen Kapellen (Santa Tecla, Santísimo Cristo) darf nicht fotografiert oder gefilmt werden.

Nach dem Ende meines Rundgangs kam ich auf dem Rückweg zur Herberge an einem der Andenkenläden vorbei, wo mir kleine Holzkreuze in Tau-Form (Antoniuskreuz) ins Auge fielen. An dieser konkreten Kreuzform gefällt mir die über die Jahrtausende und unterschiedliche Kulturen hinweg bestehende Bedeutung: es findet sich schon in steinzeitlichen Felsritzungen; es war Symbol der „Vollendung“ bei den Herrschern Assyriens; Antonius der Große, einer der als Wüstenväter bezeichneten frühchristlichen Mönche, trug einen Stab mit diesem Symbol; der Antoniterorden wählte dieses Kreuz, ein Orden der sich intensiv um Pilger kümmerte und im 14. Jahrhundert etliche Hospitäler und Herbergen betrieb. Letztlich war es auch als Bußzeichen bekannt in Verbindung mit Papst Innozenz III. und den Kreuzzügen. Es wurde über die Jahrhunderte des Jakobsweges hinweg zu dem Pilgerkreuz schlechthin. Jetzt, da ich in diesem Laden stand, empfand ich die Zeit als gekommen, um mir ein Kreuz zu kaufen, das ich neben der Marienbrosche tragen wollte.

Dann stieg ich noch zur Burg hoch, wo es einen „Mirador“, das heißt Aussichtspunkt, gibt. Weit schaut man über die Stadt und erahnt im Westen im Dunst des Spätnachmittags die Meseta.
Gegen 17 Uhr war ich zurück in der Herberge und setzte mich in einen gemütlichen, ruhigen Aufenthaltsraum, durch dessen geöffnetes Fenster ich die Kathedrale sehen konnte. Ich plante meinen morgigen Tag, hörte Musik, sprach noch einmal mit Joe, den ich, ohne es zu wissen, heute zum letzten Mal sah.
Wie auch später in León konnte ich hier in Burgos feststellen, daß sich das Gros der Pilger und Touristen auf die Kathedrale stürzt, dafür aber kirchliche Kleinode etwas abseits einsam bleiben und wirkliche Orte der Besinnung – insbesondere auch für die Bevölkerung – sind. Hier in Burgos ist das z.B. die Iglesia San Nicolás gleich in der Nähe der Kathedrale.

Mein Pilgermenü, wieder einmal Forelle, aß ich am Nebentisch der mir schon von gestern bekannten Schweden, die mich nett grüßten. Sie feierten ihren Abschiedsabend.
Für eine gute halbe Stunde setzte ich mich dann in die Tecla-Kapelle der Kathedrale und betete bzw. dachte nach. Alles ging mir durch den Kopf, was meinen ersten Teil des Jakobsweges ausgemacht hatte und jetzt zu Ende war. Ich fühlte mich gleichzeitig „geerdet“ wie erhoben, aufgerichtet, und hoffte, daß die Meseta meinen Geist nun noch weiter beruhigen würde, mich noch mehr zu mir selbst und Gott hinführen würde.
Ich besuchte noch die San-Nicolás-Kirche, bestaunte die Türme der Kathedrale im roten Abendlicht, bevor der Tag früh zu Ende ging – gegen 20 Uhr fielen mir die Augen zu.

[Hier geht’s zum Folgebeitrag.]

[Hier geht’s zur Übersichtsseite Camino Francés 2015.]

Ein Gedanke zu „Atapuerca bis Burgos (CF20)“

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert