Azofra bis Grañon (CF17)

[Die Seite ist Teil des Berichts über meinen Camino Francés 2015.]

Bill Bennett (2013) faßt das kurz zusammen, was man verschiedentlich (und immer ein wenig abgewandelt) über die Wegabschnitte des Caminos lesen kann:
„The first stage from St. Jean is representative of Life; full of highs and lows, joy and despair, strong emotions. The second stage is the Meseta, which is Death. Vast, limitless, serene and transcendent. The third stage, into Santiago, is Rebirth. After your life, after your death, as you reach Santiago, you are reborn into a new You.“

Ähnlich auch die im Buch von Detlef Lienau (2009) erwähnte Studie von Barbara Haab. Diese fand anhand der Aussagen von Langstreckenpilgern heraus, daß in einem ersten Abschnitt von den Pyrenäen bis ungefähr San Juan de Ortega „starke emotionale Schwankungen“ auftreten, während der Pilger versuche, in die Pilgerrolle zu kommen.

Schauen wir auf meine ersten zwei Wochen zurück: ein – auch im wörtlichen Sinne – Auf und Ab in zunächst sehr bergigem Gelände, das Ungewohnte in der neuen Pilgerrolle, das Sich-Arrangieren mit dem „Leben auf der Straße“, der Begleiterin und dem Übernachten in vollen, engen Herbergen; erste Schmerzen, dann wieder Freudentränen und tiefste Ergriffenheit. Ja, Bennett hat recht. Aber auch wenn ich über die Sehnsucht nachdachte, die mich zum Pilgern trieb, über den Begriff der Demut mit seiner quasi-integrativen Wirkung, die Pilgermessen mit Pilgersegen, die Schwingungen im Kirchlein Eunate: Fakt ist, die ersten beiden Wochen in Begleitung meiner Mitpilgerin aus dem hohen Norden waren nicht die spirituellsten Momente meines Caminos. Das will ich ihr nicht anlasten, aber es schwingt doch in der Erinnerung mit.

(Anmerkung Anfang 2020, da ich das hier für’s Blog aufbereite: Was auch mitschwang war: Ich befand mich in einer Phase erneuter, intensiver Religiosität, dem schon erwähnten Zurückfinden zum christlichen Glauben. Helga war hingegen aus meiner Sicht an den christlichen Traditionen des Jakobsweges wenig interessiert – oder möglicherweise auch an dem, was konkret mit katholischer Kirche zu tun hat. Unsere grundsätzliche Herangehensweisen an den Camino deckten sich wenig.)

Manfred Mönnich, der nach einer Krebserkrankung auf dem Camino unterwegs war, schrieb (2014): „Den Kontakt zu mir selbst konnte ich nur dann herstellen, wenn ich tatsächlich allein ging.“
Oder bei Codd (2008): „So the road is good for me. Out here I see. Out here I sing. Out here I pray like crazy.”

Auch für mich war es so, daß ich erst dann angefangen habe, laut zu beten und zu singen, laut mit mir ins Gespräch zu gehen und Probleme zu thematisieren, als Helga nicht mehr mit mir pilgerte – und das war heute.
Nach dem Aufstehen eröffnete sie mir, daß sie mich „ziehen lassen“ werde, denn der linke Fuß schmerze zu sehr. Das war schon ein intensiver Moment, wir wußten beide, daß jetzt etwas zu Ende ging, das über zwei Wochen Bestand gehabt hatte. Zwei Wochen gemeinsam gehen, gemeinsam essen, zusammen den nächsten Tag planen, das war jetzt vorbei. Trotzdem eine eher sachlich-kühle Verabschiedung, eine kurze Umarmung, ich hatte Tränen in den Augen, packte aber schnell meinen Rucksack und machte mich auf zur Bar, wo ich nur einen Kaffee trank und mir ein Bocadillo für unterwegs kaufte.

In noch fast vollständiger Dunkelheit verließ ich dann mit Stirnlampe Azofra und ging hinaus in weite Felder, in denen Gemüse und Getreide angebaut wurden, aber kein Wein mehr in dieser Gegend.
Allein zu gehen in meinem kleinen Lichtkegel, weit vor mir das Licht einer einzelnen Lampe eines weiteren Pilgers, hinter mir in ähnlicher Entfernung zwei weitere Stirnlampen, das war ungewohnt, aber doch gut und für mich jetzt auch wichtig. Von den knapp 800 Kilometern Jakobsweg bin ich, wie schon erwähnt, ein Viertel mit Helga gepilgert, das war dann auch in dieser Form ausreichend.
Als ich im Dämmerlicht nahe an der Autobahn entlangging, hupte ein LKW-Fahrer und winkte mir zu – ein wenig Balsam für die aufgewühlte Pilgerseele.

Auf einer Erhebung kam ich am Golfclub Rioja Alta vorbei und dann durch die vermutlich seltsamste Gegend meines ganzen Caminos: die Geisterstadt Cirueña. Überall standen leere Neubauten, ein komplettes Freibad, Rohbauten, die vermutlich Märkte werden sollten, aber alles – soweit ich erkennen konnte – unbewohnt. Obwohl es hell war, fand ich es „gespenstig“, auch weil ich gerade ohne andere Pilger in Sichtweite durch diese Stadt lief. Das erinnerte mich an einen meiner Lieblingsfilme: „I am Legend“…
Doch schon war ich wieder inmitten weiter Felder auf einem besonders schönen und aufgrund der geraden Strecke immer wieder fotografierten Abschnitt des Caminos Richtung Santo Domingo de la Calzada.

An einem Rastplatz, ca. zwei Kilometer vor Santo Domingo, traf ich auf ein deutschsprachiges Paar, das offenbar nicht realisierte, daß ich die Unterhaltung verstand… Von der Kleidung und Ausrüstung her finanztechnisch eher in der Oberschicht angesiedelt, stritten sie lautstark und mit sehr persönlichen Attacken. Er ging dann früher los, sie humpelte hinterher. Ich packte zusammen und folgte. Er war gut 200 Meter voraus, als sie etwas rief wie „So warte doch mal, laß uns zusammen gehen“, worauf er laut über diese Distanz zurückbrüllte: „Bis du mit deinem Knie hier bist, bin ich schon am Ziel. Kannst ja nachkommen.“ Fassungslos fragte ich mich, was diese Menschen hier suchten. War die Konfrontation mit sich selbst und ihrer Beziehung zuviel für etwas, das möglicherweise nur noch am seidenen Faden hing?
So traf ich auch mehrfach zwei Frauen, eine wohl aus der Schweiz, die andere aus Süddeutschland, die sich auf dem Camino kennengelernt hatten und gemeinsam unterwegs waren. Ich „taufte“ sie Schneeweißchen und Rosenrot. Doch je öfter ich sie sah, desto mehr war ich davon überzeugt, daß es zwischen ihnen erheblich kriselte… Viele Tage später sah ich dann nur noch eine von ihnen – alleine.
Als ich nach Santo Domingo kam, ging ich direkt zum Zentrum und zur Kirche, in der es ja diesen Hühnerkäfig gibt, in dem ein Hahn und eine Henne gehalten werden, was auf das sogenannte Hühnerwunder zurückgeht (in Kürze: zu Unrecht als Dieb gehängter deutscher Pilger überlebt seine Hinrichtung; ein gebratenes Huhn fliegt vom Teller weg…). Schon beim Betreten der Kirche merkte ich, daß man eine Messe vorbereitete. Es wurde immer voller, schnell machte ich ein paar Bilder, da kamen schon etliche Menschen in einer Prozession und mit Musik in die Kirche hinein. Leise ging ich wieder an der anderen Seite hinaus, nicht ohne die für mich eindrucksvollste Christusdarstellung meines Caminos bewundert zu haben.

Ich setzte mich auf den Platz draußen, aß und trank etwas, hörte dem Glockengeläut zu und fand heraus, daß man ein Fest zu Ehren von „Gracias y Hermosilla“ feierte. Nebenbei beobachtete ich, wie ein paar ältere Pilger, die ich in den Tagen vorher noch in Herbergen getroffen hatte, jetzt mit großen Koffern ins „erste Haus am Platz“ eincheckten – die „Kerkelings“ von 2015.
Alles in allem hatte ich ziemliches Glück mit dieser Kirchenbesichtigung in letzter Minute, denn andere Pilger, die gegen 13 Uhr an der Kirche vorbeikamen, fanden sie trotz Festwochenende verschlossen vor (wegen Siesta…).
Mich zog es weiter, auf langer Steinbrücke überquerte ich das trockene Flußbett, das eigentlich den Oja aufnehmen sollte. Weiter durch gelbe Stoppelfelder, brachliegende Gemüseäcker, entlang der Bewässerungsgräben und mit den fernen Bergen im Blick. Auf einen Holzpfosten hatte jemand geschrieben: „C’est en s’oubliant que l’on se découvre…“ (Ungefähr: Indem man sich selbst vergißt, entdeckt man sich neu…)
Sich selbst vergessen konnte man gut, wenn man den Blick schweifen ließ und die Weite der Landschaft, die Sonne, den Geruch des Landes in sich aufsog und seinen Körper beim monotonen Gehen fast schon ausblenden konnte. Ja, ich vergaß mich, meinen Alltag, meine Alltagssorgen, meine ungeliebte Arbeit, all das, was normalerweise an mir zog und mich in die Knie zwingen wollte. Hier war es einfach zu leben, einfach, jeden Tag weiterzugehen.

Dann kam ich endlich in Grañon an. Ich hatte mehrfach gelesen, daß der sogenannte „Hippie Place“ dort mit Bettwanzen zu kämpfen habe. Also ging ich zur kirchlichen Herberge, auch auf Spendenbasis (donativo), die von freiwilligen Hospitaleros, alles jungen Leuten, betrieben wurde. Ich war früh dran, konnte mir eine Matte aussuchen, die ich auf den Dachboden legte, wo wir alle schlafen würden. Später wurde es so voll, daß auch das gesamte Erdgeschoß geöffnet wurde, so daß – tada! – zwei Toiletten für fast 100 Pilger reichen mußten…

Ich hatte ja schon im Beitrag über Estella etwas zu diesen donativo-Herbergen geschrieben, hier also noch mal Klartext für das, was ich damit verbinde – Achtung, ganz persönliche Meinung.
Dieses hippie-eske Ambiente, die jungen Hospitaleros, die mit ihren zumeist jungen Gästen Party machen, nun ja, sagen wir so: diese Donativos machen für manche Menschen den Charme des Jakobsweges aus. Wenn ich dann Leute vor der Herberge zur Gitarre „Hotel California“ singen höre, solche, die lieber mal duschen gehen sollten, weil sie stinken bis zum Abwinken, dann ist das nicht meine Welt. Berit Janssen (2014) nennt diese Leute „Zottelpilger“ und ich gebe hier ihre Einschätzung wieder, die auch meine ist:
„Zottelpilger werden hier nicht auftauchen, aus dem einfachen Grund, weil private Herbergen deutlich teurer sind – wenn man denn zehn Euro für ein bequemes Bett und eine schöne Dusche teuer findet.“
Ich war nicht auf Donativo-Herbergen angewiesen, konnte 10 oder 15€ zahlen, also, so fragte ich mich zwischendurch, warum muß ich den Leuten, die knapper bei Kasse sind, den Schlafplatz wegnehmen? Andererseits werden gerade von einigen „kultigen“ Donativos (mit Fußwaschung durch die Brüder, die die Herberge betreiben, oder mit singenden Schwestern) Geschichten erzählt, die den Leuten in Erinnerung bleiben, weil die Erlebnisse so intensiv waren und auch mit der Ausstrahlung des Platzes verbunden sind. Eine neue Herberge wie z.B. Suseia in Zubiri hat gar keine Ausstrahlung, dafür etwas mehr Komfort…

Ein Neuseeländer erklärte sich dann bereit, mit Hilfe der Hospitaleros für die gesamte „Belegschaft“ der Pilger zu kochen. Nun gut, das tat er, aber am Ende sind einige Leute (*handheb*) nicht satt geworden. Die Brotvermehrung findet halt nicht überall statt – da lobte ich mir die Pilgermenüs in einer Bar. Letztlich stellte sich heraus, daß der eigentliche „Hippie Place“ in Grañon die „Casa de las sonrisas“, das Haus des Lächelns war, wo Klaus und Miss Mutig unterkamen.
Hier in Grañon lernte ich Iren kennen, Shamous und seine Frau Kate, von denen ich zunächst dachte, ihr Sohn Joe sei mit seiner Partnerin dabei, dann aber erfuhr, daß es die Schwester Joes ist. Dazu später etwas mehr.
Ich wusch meine Sachen in kleinen Handwaschbecken auf einem staubigen Speicher und mußte um „drei Ecken“ hinter so eine Art Schulgebäude laufen, wo ich sie auf Leinen in der Sonne aufhängen konnte.

Den Nachmittag verbrachte ich dann größtenteils alleine – zwischen Wäscheleinen und Bar pendelnd. Es waren locker 27/28°C, ein herrlicher Spätsommertag. Grañon ist ein kleiner Ort mit parallelen Straßen, die ich alle mal ablief und den Spaniern bei ihren Samstagnachmittag-Erledigungen zusah. Es war einfach nichts zu tun und irgendwie war der erste Tag „alleine“ – komisch.
Zwischendurch sprach ich mit einem höchstens 20jährigen Koreaner, der mir stolz erzählte, sein Tagespensum seien gut 45 Kilometer. Wir nennen ihn mal anerkennend „Long Wok“; ich sollte ihn wiedertreffen. Seine Mutter hatte ihn im übrigen beauftragt, nach dem Camino nach Solingen zu fahren, um dort die guten deutschen Messer einzukaufen…

Und hier in Grañon traf ich auch die einzige Frau meines Caminos, die mehr Interesse an mir als Mann, denn als Pilger hatte. Aus ihrer Sicht sollte es wohl ein Flirt werden, aus meiner – nun ja, ich hielt ihr dezent meinen Ehering unter die Nase. Ich bin nun gewiß nicht prüde, aber das war kein Thema auf meinem Jakobsweg.
Ich nahm abends am Pilgergottesdienst in der Kirche teil, verschwand dann schnell in den Schlafsack, um meine Taizé-Lieder zu hören und mich auf den nächsten Tag zu freuen, als die Hospitaleros eine „Reflektion“ ankündigten, bei der eine Kerze herumgereicht werde und jeder etwas sagen könne.
Keine weitere Donativo-Herberge hat mich auf dem restlichen Jakobsweg gesehen…

Wie ist es Helga im Weiteren ergangen? Nun, sie ist an diesem Tag nur 15 Kilometer bis Santo Domingo gegangen, dann am nächsten 6,5 bis Grañon, 17 bis Belorado und 12 bis Villafranca – von dort mit dem Bus nach Burgos. Aufgrund von heftigem Dauerschmerz ist sie ins Krankenhaus gefahren, wo eine Entzündung am Knöchel diagnostiziert wurde. Der Fuß wurde bandagiert, sie erhielt 600er Ibuprofen. Helga pausierte hier, fuhr nach Madrid, blieb dort noch einen Tag, bevor sie in die Heimat flog. 2016 ist sie dann das verbleibende Zwischenstück von Burgos bis Astorga ohne Probleme gepilgert.
Später schrieb sie mir: „Ja, Volker, unsere gemeinsame Pilgerzeit war schön, aber ich merkte auch, daß Du dann doch eigentlich alleine laufen wolltest. Ich habe Deine Begleitung genossen und danke Dir dafür.“

[Hier geht’s zum Folgebeitrag.]

[Hier geht’s zur Übersichtsseite Camino Francés 2015.]

2 Gedanken zu „Azofra bis Grañon (CF17)“

Kommentare sind geschlossen.