
Das Kap von Finisterre bzw. Fisterra zieht sich von Nord nach Süd in den Atlantik hinein und schließt die im Norden liegende Küste des Todes (Costa da Morte) in Galizien ab. Im Süden des Kaps befindet sich ein Doppelberg: westlich der langgezogene Monte do Facho, östlich der Monte de San Guillermo – beide auf halbem Weg zwischen dem Ort Fisterra und dem Leuchtturm am Südzipfel des Kaps. Auf dem Facho (wie ich den Berg der Einfachheit fortan nenne) gibt es beeindruckende Felsformationen mit mindestens zwei großen, beweglichen Felsblöcken, die auch als Heilige Steine / Piedras Santas / As Pedras Santas bezeichnet werden.
Auf dem Berg im Osten, dem von „Guillermo“, findet sich eine verfallene Eremitage gleichen Namens: Ermida de San Guillerme. Sie schließt sich östlich an einen massiven Felsblock an und bestand früher aus einer Kapelle und einem Wohn- oder Mehrzweckraum. Zu sehen sind Mauerreste, ein massiver, gemauerter Altar sowie ein Überrest einer Art Sarkophag, ähnlich dem an den Externsteinen. Das Relikt wird mal als Steintrog bezeichnet, mal als Totenbank, Sitzbank, Steinbett. Für mich ist diese Anlage auf dem östlichen Bergzug zu unterscheiden von dem, was im weiteren als „Sonnenaltar“ bezeichnet wird. Ob das schlüssig ist, wird sich später zeigen. Den Ort kann man sich in Google Maps anschauen.
Mit dieser Unterscheidung gehe ich konform z.B. mit John Brierley, der etliche Pilgerführer für Spanien verfaßt hat. Er gibt als zeitlichen Bezugspunkt für die Eremitage das 5. Jahrhundert an („A Camino Pilgrim’s Guide, Sarria – Santiago – Finisterre“, Findhorn Press, 2017). Ohne konkrete Nennung schreibt er, daß mehrere Quellen angeben, an diesem Ort haben der Heilige Jakobus selbst gepredigt, um dem heidnischen Treiben am Ara Solis, dem besagten Sonnenaltar, mit seinen Fruchtbarkeitsriten ein Ende zu bereiten. Mit den Piedras Santas, heiligen Steinen, seien drei einzeln stehende Felsblöcke auf dem Facho gemeint. Zu klären sind also Begrifflichkeiten vor dem Hintergrund einer mehr als dürftigen archäologischen Lage. Wir werden sehen, daß oft die Eremitage mit dem Sonnen- und Fruchtbarkeitskult in Verbindung gebracht wird und die Steine auf dem Facho in den Hintergrund treten.
Auf dem folgenden Bild sind die heute noch sichtbaren Grundrisse zu erkennen. Links von der Ermida muß man sich den Felsblock vorstellen, s. Bilder weiter unten. Die Kapelle war der nördliche Raum, der offenbar auch den höhlenartigen Raum unter dem Felsblock mit einschloß. Der südliche Raum mit Kamin bzw. Kochstelle war wohl der Wohnraum.


Welche Infos fand ich am Tag meines Besuches (14.7.17) vor? Leider zunächst einmal eine zerstörte Infotafel. Daneben eine von der Sonne stark ausgeblichene Tafel zum archäologischen Erbe „San Guillermo“, die jedoch nur die Umrisse der Eremitage zeigte. An anderer Stelle fand ich dann eine Infotafel, die von den Ausmaßen her mit der zerstörten identisch sein mußte. Ich habe den Text später von Google übersetzen lassen und aus dem schwer lesbaren Ergebnis diese Infos gezogen: Die Eremitage liegt auf 222m Höhe über dem Meer. Sie besteht aus vier Granit-Fassaden (Mauerreste), die einen Altar umschließen. Es ist von einer Überdachung aus „orangenen gekrümmten Ziegeln“ die Rede, da viel von diesem Material gefunden worden sei. (Pfostenlöcher bzw. solche für Dachbalken sieht man noch im Fels.) Es habe verschiedene Bauphasen gegeben, so auch die christliche Einsiedelei. Der südliche Raum hätte verschiedene Nutzungen gehabt, darauf wiesen die „Kamine“ im Ostbereich hin. Insgesamt spreche man über den Zeitraum 12. bis Ende des 14. Jahrhunderts. Im „Auftrag der Kirche“ sei die gesamte Anlage im 17. Jahrhundert zerstört worden, doch sei es ein Ort der Anbetung und Wallfahrt bis heute geblieben.

Wenn Zeitangaben sehr „springen“, kann man davon ausgehen, daß man nichts genaues nicht weiß. Beim Start der archäologischen Ausgrabungen 2007 hieß es, der Sarkophag stamme aus dem 7. Jahrhundert, wohingegen der Mensch, der dem Ort seinen Namen gab, im 13. Jahrhundert hier gelebt haben soll. Zerstört worden sei alles im 16. Jahrhundert – oder im 18. Jahrhundert, denn das sagt eine Infotafel weiter unten im Ort… Diese Infotafel wirft noch einmal alles in den Topf, was man mit wenigen Worten zusammentragen kann: Die Eremitage werde mit dem Ara Solis (Sonnenaltar) und Fruchtbarkeitskulten assoziiert, sie sei das Ergebnis der Christianisierung eines heidnischen Kultortes. Über die Jahrhunderte hinweg seien kinderlose Paare zu diesem Ort gekommen, da es hieß, wer Geschlechtsverkehr auf dem alten Sarkophag habe, dem werde der Kinderwunsch erfüllt. (Lustigste Google-Übersetzung für diesen Umstand: „Steinmatratze“.) Anderweitig heißt es aber, daß der plattenartig flache Stein unter dem Überhang des großen Felsens, der „Altarstein“ genannt wird, besser geeignet sei und eher genutzt würde für derlei Aktivitäten – s. Foto:

Wir haben also drei mögliche Deutungen:
- Die Felsformationen auf dem Facho sind Ort des eigentlichen Sonnenaltars und -kultes (aber auch: was ist ein Sonnenaltar?)
- Die Überreste der Eremitage finden sich dort, wo früher der heidnische Kultort war, stehen also an der Stelle des Ara Solis
- Das gesamte Areal – Facho-Felsen + Eremitage – gehört zusammen mit seinen Facetten „Sonnenaltar“ und „christlicher Eremitage“ [Hierfür spricht die exponierte Lage: Im Osten (ex oriente lux) sieht man von der Eremitage den Sonnenaufgang, im Westen schaut man vom Facho herunter auf einen grandiosen Sonnenuntergang über dem Meer. Sonnenverehrung oder auch nur -beobachtung fand möglicherweise auf dem gesamten Berg statt.]

Schauen wir weiter, was Bücher und Netz so hergeben: Diese dritte Variante, die „Vermischung heidnischer und christlicher Bräuche“, beschreibt auch C. Rabe in ihrem Jakobswegführer „Spanischer Jakobsweg – Von den Pyrenäen bis Santiago de Compostela (Rother, 2014). Der Ara Solis soll demnach mit den Phöniziern zusammenhängen, aber auch die Kelten hätten Sonnen- und Fruchtbarkeitsfeste auf dem Monte Facho gefeiert (auf gut deutsch: es ist völlig unklar, wer da herumturnte). Mit der Eremitage, die Rabe im übrigen ohne Quellenangabe auf das 10./11. Jahrhundert datiert, sei ein Fruchtbarkeitsaspekt verbunden: Kinderlose Paare sollen eine Nacht in der Eremitage verbringen, damit der Kinderwunsch erfüllt werde. (Von den Phöniziern liest man in dem Zusammenhang immer wieder, was mir nicht so ganz nachvollziehbar erscheint, waren sie doch ein semitisches Volk, das die Levante besiedelte und im Mittelmeer den Handel dominierte. Zwar durchfuhren sie die Meerenge von Gibraltar, und es ranken sich viele Legenden darum, wo sie überall gewesen sein können (Handel mit Britannien, Fahrt nach Amerika), aber der nördlichste nachgewiesene Handelsposten ist laut Wikipedia Abul in Portugal.)

Andererseits kann man auf Galicien-Spanien.com (Inhalt nicht mehr online, 2.6.2020) lesen, die Römer hätten den Sonnenaltar erschaffen. Das halte ich eher für Unsinn. Auch hier wieder die Verwechslungsgefahr: Sind die Überreste der Eremitage gemeint oder die Natursteine weiter nördlich? Es soll eine Sonne dort in den Fels eingemeißelt sein, die am Tag der Frühlings-Tag-und-Nacht-Gleiche morgens den ersten Sonnenstrahl empfange. Der Apostel Jakobus habe dann selbst den heidnischen Altar zerstört und das Anwesen in eine christliche Eremitage überführt. Da der Artikel dann auf die „Piedras Santas“, die heiligen Steine auf dem Monte Facho eingeht, war im obigen Text klar die Eremitage gemeint. Es seien zwei große, bewegliche Felsen. Angegeben wird dazu noch folgende Legende: Wollte sich ein Mann vor der Heirat von der Jungfräulichkeit seiner Braut überzeugen, ließ er sie über die Steine laufen. Bewegten sich diese nicht, war sie noch Jungfrau… Also haben wir nun schon zwei Bräuche, die sich mit Fruchtbarkeit befassen, eine klar dem Facho zugeordnet, die andere der Eremitage oder dem Facho.

Die Gemeinde Fisterra hat einige touristische Infos unter ConcelloFisterra.com im Netz. Es heißt, an der Eremitage habe eine Kapelle gestanden, die im 18. Jahrhundert zerstört worden sei, aber das wissen wir ja schon. Ein Ortskundiger, der die Geschichten um das Kap sammelt, erklärt, es habe eine Heiligenstatue dort gegeben, die nicht mehr existiere, aber das „Bett“ (die „Steinmatratze“) sei noch zu sehen, das auch als Sarg bzw. Grab bezeichnet werde. Dies sei Zeugnis eines vorchristlichen Fruchtbarkeitskults: Der Legende nach sind Paare mit unerfülltem Kinderwunsch… – kennen wir schon. Dies sei noch heute so, sagt der Mann, aber den eigentlichen Akt vollziehe man später zu Hause im Bett… Die christliche Kirche habe dann diesen Fruchtbarkeitskult unterbunden. Zu dem mächtigen Felsblock wird gesagt, daß sich darauf Sonnensymbolik befinde, was auf einen einstigen Sonnenkult hindeute, aber das wissen wir auch schon. Die gesamte Anlage ist auf die Bucht von Fisterra ausgerichtet und den im Osten, jenseits der Bucht zu sehenden Monte Pindo, um den sich ebenfalls verschiedene Mythen ranken. Ein ungarischer Ritter Jorge Grissaphan habe im 14. Jahrhundert eine Pilgerreise unternommen, die ihn von Santiago nach Fisterra weiterführte (beschrieben in den Visiones Georgii). Da er als Einsiedler in Galizien bleiben wollte, habe man ihn über einen einsamen, wüstenhaften Ort in der Abgeschiedenheit hoher Berge informiert. Er soll an diesem Ort mehrere Monate von Brot und Wasser gelebt haben, bis er „flüchtete“, weil die Leute ihn wohl doch nicht in Frieden beten und meditieren ließen. 1417 habe dann ein Nompart II. von einem San Guillermo aus der Wüste gesprochen (wir sehen weiter unten, daß das zumindest eine teilweise Verwechslung ist). Im 16. Jahrhundert sprach Bartolomé Fontana davon, daß Einheimische Pilger zur Einsiedelei von Guillermo führten. Beschäftigen wir uns also mit dem Namen der Eremitage.

Auf den besagten Fisterra-Seiten wird die „Saint William Hermitage“, wie sie im englischen genannt wird, auch klar mit dem Sonnenkult (Ara Solis) in Verbindung gebracht, aber auch mit „William / Guillermo“, Herzog von Aquitanien. Man vergegenwärtige sich, daß Wilhelm, William, Guillaume und Guillerme / Guillermo der gleiche Name ist. Wer ist also Wilhelm, Herzog von Aquitanien? Das Heiligenlexikon weiß, daß er um 745 geboren wurde und am 28. Mai 812 in Gellone (heute: St-Guilheim-le-Désert) in Frankreich gestorben ist; er wird auch Wilhelm von Gellone genannt. Er war ein Enkel von Karl Martell, kämpfte gegen Basken und Sarazenen. 804 gründete er die Benediktinerabtei Gellone, trat 806 dort als Laienbruder ein. Zum Eintritt habe er eine Kreuzreliquie mitgebracht, die er persönlich von Karl dem Großen erhalten haben soll. Wilhelm habe im Kloster einfachste Arbeiten erledigt und auch „als Einsiedler“ gelebt. Aha, daher weht der Wind… Die Verbindung zu Santiago de Compostela liegt da, daß die (heute noch verehrte) Kreuzreliquie in Gellone für viele Pilger nun Zwischenstation auf dem Weg zum Pilgerziel wurde. Auch das Grab Wilhelms wurde aufgesucht. Der Verstorbene wurde 1066 heiliggesprochen und gilt als Schutzheiliger der Waffenschmiede. Dieser Wilhelm ist mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht gemeint, wenn es um den „Guillermo“ geht, der der Eremitage den Namen gab. Nicht zu verwechseln ist dieser Wilhelm mit Wilhelm I. von Aquitanien, der 918 gestorben ist und auf den die Klostergründung von Cluny zurückgeht. Und um es noch komplizierter zu machen, kommt ein weiterer Wilhelm, diesmal der Zehnte, genannt Wilhelm X. der Heilige, hinzu, der zu allem Überfluß zunächst noch als Wilhlem VIII. herrschte… Auf diesen verweisen die Infos der Tourismus-Seite von Fisterra. Er wurde 1099 in Toulouse geboren und starb am 9. April 1137 in … Santiago de Compostela am Ende seiner Pilgerreise an einer Lebensmittelvergiftung, so heißt es. Interessant hierzu der Hinweis in der Wikipedia, daß sich im Mittelalter viele Legenden um den Mann rankten, die auch dazu führten, daß er mit Wilhelm von Gellone verwechselt wurde. (Das war unser erster Wilhelm oben.) Man sieht hier, wie solche Geschichten entstehen. In der Broschüre „El final del Camino está en Fisterra“ (Hrsg: Concello de Fisterra, o.J., englische Version) heißt es, in der christlichen Zeit sei aus dem Ara Solis, der zuvor schon vom Apostel Jakobus selbst zerstört worden war, dann die Eremitage von San Guillermo geworden. Der Eremit, der dort lebt, könne der „Herzog von Aquitanien“ gewesen sein. Wilhelm von Gellone, unser erster Wilhelm von oben, lebte als Einsiedler innerhalb des Klosters und hatte keinen Bezug zu Fisterra; er verstarb im Kloster in St-Guilhem-le-Désert. Wilhelm X. hingegen war in Santiago bzw. soll dort sogar gestorben sein. Keine Geschichte ohne ein Aber: Durchaus nachvollziehbar verweist José Ramon Insua Trava (Link bei finisterrae.org 2022 nicht mehr auffindbar) darauf, daß die Einheimischen sich den Namen „Guillermo“ nicht einfach ausgedacht haben könnten, sondern daß eben tatsächlich ein Mensch dieses Namens dort gelebt haben müsse. Ebenfalls interessant: 1901 hätten die Einwohner von Fisterra einen Appell an ihren Bischof gerichtet und die Bitte, die Kapelle „San Guillerme de Monte Virgen“ wiederaufbauen zu dürfen. Der Autor weiß nun von einem Sebaldo Rieter, der 1426 die Eremitage besucht haben soll, und der schrieb, dort liege der Körper des ehrwürdigen San Guillermo bestattet. Diese Variante hatten wir noch nicht (aber schon den passenden Sarkophag dazu)… 1484 heißt es, die Kirche von Fisterra verwahre Reliquien von einem San Guillermo in einem Schrein auf. Und dann wird es noch verwirrender: es soll insgesamt drei Einsiedeleien gegeben haben… Das wäre nicht unbedingt verwunderlich, da auch die Wüstenväter ihre einfachen Unterkünfte nicht zu fern von einander gebaut hatten. Wo einer auf eine Idee kommt, machen es ihm andere nach… José Ramon kommt zu dem Schluß, Guillermo X. (von Aquitanien), unser obiger Wilhelm der Heilige, habe dieser Eremitage den Namen geben. Er habe nach der Pilgerreise ein Leben als Einsiedler begonnen, sei dann dort verstorben, worauf die Angaben von Grab und Reliquienaufbewahrung in Fisterra hindeuten würden. Eine Sache spricht gegen diese Deutung: Es gibt ein Bild (im Wikipedia-Artikel zu sehen), das Wilhelm X. auf seinem Sterbebett zeigt – und das sieht nicht nach einfacher Eremitage auf einem Berg aus…
Kurz weiter zu dieser englischsprachigen Broschüre, die ich in Fisterra erhielt: Es wird das Nerio Promontorio erwähnt, das Ptolemäus beschreibt, der dort auch einen Solis arae, Sonnenaltar, verortet (Post Nerium Promontorium, aliud Promontorium in quo Solis Arae). Das Kap von Finisterre sei mit dieser Beschreibung verbunden worden (was auch heißt, daß das keine definitive Angabe ist). „Caldeans“ (Chaldäer?) und – wieder einmal – Phönizier hätten den Sonnenaltar gebaut. „Nerios“ seien die keltischen Bewohner des Kaps gewesen. (Die Chaldäer waren, wie die Phönizier, ein semitisches Volk, das zu gleicher Zeit wie diese im 1. Jahrtausend v.Chr. in Südmesopotamien lebte. Laut Wikipedia-Artikel wurde der Name Chaldäer auch synonym mit „Sterndeuter“ verwendet. So wird teilweise auch angenommen, daß die „Drei Heiligen Könige“, die den neugeborenen Jesus besuchten, Chaldäer gewesen sein könnten. Aber auch hier die Frage: was machten diese an Spaniens Nordwestküste?) An der archäologischen Fundstätte sei eine Steinplatte oder Totenbank zu sehen, auf der der Heilige (eben Wilhelm) geschlafen habe. Die Legende besage, wenn ein Paar Kinder haben möchte… das kennen wir schon.
Die Broschüre bezieht sich nun weiter auf archäologische Ausgrabungen („recent“), also wohl die von 2007 oder 2009. Gefunden habe man bronzene Glöckchen / Glocken, Kreuze, Münzen sowie eine „jet sculpture“ des Heiligen Jakobus (aus dem Mittelalter), wobei unklar ist, was hier mit ‚jet‘ gemeint ist (rabenschwarz?). Dieser letztere Gegenstand, so die Broschüre zum Abschluß, bestätige die Verbindung von Santiago und Finisterre.
Hier muß ich noch einmal auf die Nerios zurückkommen, deren „Vorgebirge“ (promontorium) Ptolemäus erwähnt. Sie seien auf den Berg gekommen, um ihren Sonnenkult auszuüben. In der Liste keltischer Stämme tauchen sie nicht auf. Laut englischer Wikipedia waren das Kelten aus „Duio“ (römisch: Dugium, heute Vorort von Fisterra, dort gibt es noch eine Kirche Igrexa de San Vicenzo de Duío). Für Galizien werden die Gallaeker angegeben, interessant immerhin: der griechische Name kallaikoí bedeutet „Bergbewohner“. Die Römer kamen um 139 v. Chr. erstmalig mit ihnen in Kontakt, wobei es ihnen in der Folgezeit nie gelang, sie vollständig zu romanisieren. Von den Gallaekern heißt es, sie hätten keinen eigenen Gott gehabt, Strabon (Geographika 3,4,16) nennt aber einen namenlosen Gott, für den bei Vollmond Kulttänze aufgeführt würden. Insgesamt erscheint mir diese keltische Variante schlüssiger als die Erwähnung der Phönizier und Chaldäer.
Noch eine Quelle sei genannt, die dezidiert die Eremitage mit dem Sonnenaltar verbindet; der Text findet sich in einem Pilgerblog. Interessanterweise wird dort davon gesprochen, daß in der Geschichte von der Ankunft der sterblichen Überreste des Apostels Jakobus in Galizien von einem „Ara Solis“ die Rede sei. Diesen Text konnte ich leider nicht finden (Legenda Aurea von Jacobus de Voragine). In der Nacherzählung geht die Geschichte ungefähr so: Die Jünger des Apostels trafen eine (keltische) Königin Lupa und fragten sie, wo sie den Leichnam des Jakobus bestatten könnten. Lupa hinterging sie und schickte sie zu den (heidnischen) Priestern des „Ara Solis“, wo sie gefangengenommen und eingesperrt worden seien. Sie konnten jedoch entkommen, die Königin betrog sie erneut, bis sie ihnen endlich einen Ort zur Bestattung zuwies (sinnigerweise wohl ihren Palast und nicht den Ort, an dem sich heute Santiago de Compostela befindet) .
„Sonnenaltar“ heiße im übrigen, so der Beitrag weiter, daß es eher im Sinne eines Observatoriums zu verstehen sei, nicht als Verehrung der Sonne als Gottheit. Der Bericht wird nun unklar: die Römer hätten aus Ehrfurcht nichts auf dem Berg / den Bergen angerührt, später sei die christliche Eremitage gebaut worden, und die sei als „Ara Solis“ genutzt worden. Das ist widersprüchlich… Immerhin erfahren wir hier noch, daß dieser mögliche Steinsarg erst im 18. Jahrhundert auf Betreiben der Kirche zerschlagen worden sei, so daß er heute eben nur als Überrest dort liege. Alles in allem hilft dieser Beitrag wenig weiter.
Schauen wir noch schnell in den „Guía Mágica del Camino de Santiago” von F.C. Gil (Barcelona, 2015). Der Autor bezeichnet beide Berge als alte Kraftorte, einst Muttergottheiten geweiht, aber später christianisiert (auch so ein Standardspruch – man müßte gleich nachfragen: welche Gottheiten, welche Kultur usw.?). Auf dem einen Berg (Facho) finde man „as pedras santas“, die heiligen Steine, die sprechen und singen, wenn der Wind sie umweht. Auf dem anderen Berg seien die Reste der ermita de San Guillermo, eine kleine Höhle unter einem riesigen Felsblock (mit Mauerresten davor). Die Höhle sei mit der Sage von der Hexe Orcavella verbunden. Das wiederum verweist wohl am ehesten auf eine vorchristliche Sage hin… Und schon wieder eine Unbekannte mehr in diesem Rätsel. Also noch mal zu den Seiten des Concello Fisterra zurück. Orca Vella (wohl: Orca die Alte) sei eine barbarische Frau gewesen, die auf dem Facho gelebt habe. Sie habe Magie betrieben, Leute ausgeraubt, Kinder gegessen und Menschen gejagt. Am Ende ihrer Tage habe sie sich ein Grab ausgehoben und sich mit einem verhexten Schäfer hineingelegt zum Sterben. Doch der Schäfer habe zu schreien begonnen, woraufhin Menschen kamen, um ihn zu retten, was aber unmöglich gewesen sei, da aus dem „Sarkophag“ Schlangen herausgekommen seien. Spannend dazu ein paar Informationen von der Xacopedia auf Galizisch. Dort kann man zunächst die Sache mit der Hexe, dem Schäfer usw. nachlesen. Erstmalig wurde diese 1583 von Julio Íñiguez de Medrano schriftlich erwähnt mit dem Hinweis, daß die Bewohner von Fisterra Pilger davor warnen, auf den Berg zu gehen. Interessant fand ich den Bezug, der zur schottischen Cailleach Bheur hergestellt wird, einer Riesengestalt, die als Hexe oder die Verhüllte bezeichnet wird. Noch interessanter: Orca Vella soll „alte Arca / Arche“ heißen und in Galizien bezeichne man Dolmengräber als Arca oder Anta. Hier eröffne sich ein Bezug, der noch älter als die keltische Kultur reichen könne. Orca Vella wären also die „Dolmen der Alten“.
Where do we stand? Ich fasse zusammen, wie sich das Bild für mich darstellt:
Phönizier und Chaldäer lasse ich raus. Das ist zu wenig greifbar und nicht gesichert.
Wir haben dann in der vorchristlichen Zeit (allgemein) einen Doppelberg mit beeindruckenden Steinformationen (Facho – Piedras Santas, aber auch der mächtige Fels an der heutigen Eremitage), die fantastische Blicke auf Sonnenauf- und -untergang bieten. Für unser Verständnis sind die Kelten die wahrscheinlichste Kultur, die man mit dieser Region verbinden kann (jenseits der Bevölkerung, die die vordringenden Kelten vorfanden.) Wenn man weiß, daß im ganzen Celticum Muttergottheiten verehrt wurden, dann passen die o.e. Kulttänze zu Vollmond am ehesten. Einen Göttervater (klassischer Himmels- bzw. Sonnengott) verehrten sie nicht. Unter Umständen gehört hierhin auch die Sage von der „Orca Vella“, wenn man sie mit der keltischen Mythologie in Verbindung bringen will. Diese keltische Kultur hielt sich in Galizien sehr lange. Im frühen 5. Jahrhundert kamen die Sueben, später die Westgoten. Die christliche Kirche etablierte sich erst im 6. Jahrhundert; noch Ende des 7. Jahrhunderts beklagte man heidnische Praktiken, an denen das Volk hing. Das dürfte sich erst nachhaltig mit dem Auffinden des Jakobusgrabes 813 geändert haben. Mir gefällt die Deutung des Ara Solis als eine Art Observatorium, was nicht ausschließt, daß man dort auch in der Betrachtung der „Geburt der Sonne“ und ihres „Todes“ im Westen mütterliche Gottheiten verehrte und damit auch Fruchtbarkeitsriten kannte. In diese Sichtweise läßt sich auch das „Nerio Promontorio“ von Ptolemäus integrieren. Zudem wurden in Galizien bislang zwei römische Altäre, die der Göttin Cibeles gewidmet waren, gefunden. Cibeles ist Kybele vom Berg Ida, lateinisch auch Magna Mater genannt. Einer dieser Altäre ist ganz in der Nähe von Fisterra (Link bei finisterrae.org 2022 nicht mehr auffindbar). Haben die Römer – man denke an den Matronenkult in der Eifel – hier einen Altar erstellt, weil man hier Muttergottheiten verehrte? „Ara Solis“ – das ist für ich der gesamte Doppelberg in seiner vorchristlichen Bedeutung.
Hier folgt für mich nun ein Sprung ins 12. Jahrhundert – und zu Wilhelm X. dem Heiligen. Ja, José Ramon Insua Trava hat mich überzeugt: ich glaube nicht, daß die Bewohner des Kaps sich den Namen „Guillermo“ einfach so ausgedacht haben. Irgendwie muß unser Wilhelm mit dem Berg verbunden sein, damit auch mit der christlichen Eremitage, die er möglicherweise begründet hat. War es Wilhelm X. persönlich? Das, so meine ich, kann man offenlassen. Ob er nach der Pilgerreise nach Finisterre kam, ob er dort (kurze Zeit) als Einsiedler lebte und dann dort oder in Santiago verstarb, das läßt sich nicht klären. Man stelle sich einfach folgende fiktive Situation vor: das einfache Volk erfährt, daß der „Herzog von Aquitanien“ zu Besuch komme am Ende seiner Pilgerreise nach Santiago. Er wird auf den Berg geführt, reist wieder ab, doch kurze Zeit später läßt sich auf dem „Herzogsberg“, dem Monte de Guillermo, ein Einsiedler nieder. Im Mittelalter „boomte“ die Pilgerreise nach Jerusalem und es wäre nicht ungewöhnlich, wenn sich in der (weiteren) Umgebung von Santiago neben Klostergründungen, Kirchenneubauten auch Einsiedler niedergelassen hätten. Es sei auch noch darauf hingewiesen, daß Wilhelm X. im Mittelalter zu einer „von Legenden umrankten Figur“ wurde.
Wir wissen dann vom erwähnten Jorge Grissaphan, daß er im 14. Jahrhundert einige Zeit auf dem Berg gelebt hat. Anfang des 15. Jahrhunderts ist in Verbindung mit dem Berg von Guillerme „aus der Wüste“ die Rede; das ist wohl die klare Verwechslung mit Wilhelm von Gellone. Unklar für mich: Was hat es mit der „Grabstätte“ eines Guillermo auf dem Berg auf sich, was mit den in der Kirche in Fisterra verehrten Reliquien eines Guillermo? Damit kann m.E. nicht Wilhelm X. gemeint sein.
Der eine oder andere wird hier sicher schon fragen: und wo bleiben die Fruchtbarkeitsriten? Nun, ich glaube, daß sich hier ein vorchristliches Element durch die Zeiten erhalten hat, das heute mit der Eremitage verbunden ist (bzw. schon vor Jahrhunderten damit verbunden war), weil sie eine greifbare menschengemachte Anlage auf dem Berg ist – im Gegensatz zu den Felsformationen auf dem Facho. Man muß ja nur auf den Osterhasen verweisen, auch er ist Teil vorchristlicher Fruchtbarkeitskulte, die vom Christentum umgedeutet und integriert wurden. Ich glaube, daß das in der Eremitage von Guillermo auch so stattgefunden haben könnte. Und wenn man sich dann vorstellt, daß der Sarkophag wirklich essentieller Teil dieser Riten war bzw. dieses Brauchtums, das kinderlose Paare auf den Berg brachte, dann ist auch vorstellbar, daß die offizielle Kirche sowohl die Eremitage zerstören wie auch den Sarkophag zerschlagen ließ. Das soll zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert geschehen sein. Die BILD-Zeitung hätte sicher getitelt: „Bischof zerschlägt Sex-Enklave auf dem Heidenberg“.
Zeitlich habe ich natürlich ein „Loch“ zwischen dem 6./7. Jahrhundert und dem 12. Brierley spricht vom 5. Jahrhundert für die Eremitage, bei den kurzen Infos zu den archäologischen Untersuchungen war vom 7. Jahrhundert die Rede. Was ist da passiert? Entweder „nichts“ oder eben Anfänge christlicher Einsiedelei. Es ist ja denkbar, daß unser Wilhelm gezielt zu dem Berg bei Fisterra kam, weil er von Einsiedlern gehört hatte, die dort bereits lebten. Das Bild der Wüstenväter konnte auch damals noch faszinieren. Und möglicherweise haben sich zwischen dem 5. und 7. Jahrhundert ganz gezielt dort christliche Eremiten angesiedelt, um den heidnischen Kulten etwas entgegenzusetzen. Da diese Menschen extrem einfach gelebt haben dürfen, wird man sich nicht im archäologischen Fundbild verorten können. Was ist mit Jakobus? Hat er auf dem Berg gepredigt oder gar heidnische Altäre zerschlagen? Nö, hat er nicht. Es ist ja noch nicht einmal sicher, ob er je einen seiner beiden Füße auf spanischen Boden gesetzt hat… Aus der mit ihm verbundenen Geschichte kann man v.a. die „keltische Königin“ Lupa rausziehen und dadurch auch eine Verbindung mit dem „Ara Solis“. Letztlich konnte ich mit diesen Nachforschungen für mich einigermaßen einordnen, wie ich diesen Ort, der mich sehr inspiriert hat, deuten kann. Gerne wüßte ich mehr dazu, würde ich auf die archäologischen Ergebnisse zugreifen, aber dafür reicht mein spanisch nicht aus – wenn ich sie denn finden würde. Vermutlich kann man nur vor Ort in Galizien sinnvoll weiter recherchieren.