Einleitung und Anreise (CF6)

[Die Seite ist Teil des Berichts über meinen Camino Francés 2015. Dies ist nach den Einleitungsseiten (CF1-5) der erste Teil des eigentlichen Berichts.]

Wer mich in den dreißig Jahren zwischen ungefähr 1985 und 2015 kannte, der würde mich schwerlich auf dem Jakobsweg in Spanien vermutet haben, denn das war nun in keiner Weise mein Lebensthema in religiöser Hinsicht.

In Kürze: ich bin in einem ausgesprochen katholischen Elternhaus aufgewachsen, habe seit ungefähr dem zwölften Lebensjahr bemerkt, daß mich auch Pantheismus und Naturreligion interessieren, war dann lange Jahre mit dem (Theravada-)Buddhismus beschäftigt, bevor die „neuheidnische Komponente“ wieder in den Vordergrund rückte und ich mich intensiv mit der Religion der Germanen befaßte. Daraus entstand ein umfangreiches Internetprojekt, eine Pionierleistung im deutschsprachigen Netz, die heute noch von einer anderen Person ausgebaut wird; daraus folgten eine langjährige Vereinsmitgliedschaft, die Teilnahme an Gruppenritualen, eigene Ritualgestaltung zur Geburt bzw. Namensgebung meiner Söhne, der Hochzeit mit meiner Frau und so weiter. Ich hatte „gefunden“…

Auch die katholische Kirche hatte ich im Rahmen des Wechsels von einem konfessionellen Arbeitgeber zur beruflichen Selbständigkeit verlassen.
Der einsetzende Wandel kam langsam: eine immer mehr an mir nagende Unzufriedenheit, einerseits bezogen auf den Glauben an die germanischen Götter (also die „Wiederbelebung“ einer antiken, ausgestorbenen Religionsform in der modernen Zeit), andererseits hervorgerufen von manchen Menschen und ihren Lebensentwürfen, die ich in der heidnischen „Szene“ kennenlernte – und die zu mir nicht so richtig paßten. Das Bild von der „auf Dauer gefundenen spirituellen Heimat“ kam ins Wanken, ich fühlte mich unwohl, begann mich zurückzuziehen.

Und nun liefen mehrere Entwicklungsstränge parallel: Ich lernte die Werke von Willigis Jäger (Zenmeister, christlicher Mönch und Mystiker) kennen, tauchte ein in diese Welt christlicher Mystik, las aber auch über Gnosis, Katharer und Urchristentum.
Dann ein Schlüsselerlebnis: in einer Kirchenruine, die ich seit meiner Kindheit jedes Jahr zu Weihnachten besuche (zunächst mit dem Vater, heute mit einem Freund und meinen Söhnen), saß ich in der kleinen, von hunderten Kerzen erleuchteten Kapelle und es überkam mich wie ein äußerer Zwang, nein, sagen wir „Hingeführtwerden“, ein Ave Maria zu sprechen. Mir flossen die Tränen, ich war in kaum beschreibbarer Weise ergriffen, ja, ich denke heute, etwas hat mich „von außen“ ergriffen, mich gehalten und seitdem sanft geführt.

Ein anderer der parallelen Stränge war eine Auszeit für mich ganz allein, die ich mit meiner Frau, die mich beruflich vertreten würde, für 2015 aus hier nicht relevanten Gründen vereinbart hatte. Nun begann ich, die möglichen Aktivitäten auszusortieren: Alpenüberquerung, Kungsleden-Langstreckenwanderung in Nordschweden, Durchquerung der Peloponnes … Jakobsweg.

In der vorsichtigen Rückbewegung hin auf die Religion meiner Kindheit, blieb der Jakobsweg übrig. Als ich Anfang September 2015 nach Spanien reiste, trug ich einen kleinen Marienanhänger um den Hals. Aber war ich (wieder) Christ? Wo stand ich in religiöser Hinsicht?
Und da ich auch die vermutliche Mitte meines Lebens mit 48 Jahren überschritten hatte, stellten sich zudem Fragen zum „guten Leben“: was mußte ich ändern, wie konnte ich mich ändern?

All das wollte ich auf dem Jakobsweg mit mir – und Gott – klären.

ANREISE
Am Montag, 7. September 2015, saß ich abends in meinem gemütlichen Sessel im Wohnzimmer, vor mir der gepackte Rucksack und die bereitgelegte Kleidung für den kommenden Tag.
Die Nervosität der letzten Wochen hatte sich etwas gelegt, denn morgen früh sollte es losgehen – und je näher das Ereignis kam, desto ruhiger wurde ich. Andererseits zollte mir die Vorstellung, nach 30 Jahren zum ersten Mal wieder zu fliegen, doch etwas Respekt. Meine Frau war den ganzen Tag in gedämpfter Stimmung, meine Eltern beim Abschied eher vorwurfsvoll. Zum einen hieß es von ihnen, wie schon so oft in meinem Leben: „Wärst du doch schon wieder da“, ein Standardspruch, der das Leben im Augenblick negiert, weil es Angst macht, und nur in der Retrospektive wahre, ungefährliche Befriedigung findet. Wie schwer fiel es mir durch die Jahre hinweg, mich von dieser Fotoalbum-Mentalität zu befreien. Zum anderen wurde mir vorgehalten, mich von meiner Familie zu entfernen, die doch wichtiger sei als meine „Selbstfindungs-Trips“.

Was natürlich niemand wußte, weil ich nicht darüber sprach: Ich war in all den vorherigen Jahren oft genug gerade beruflich an eine Grenze gekommen, die nicht „Burnout“ war, aber doch eine Belastung in dieser Richtung bedeutete. Und anstatt kontinuierlich Sport zu treiben und mich gesund zu ernähren, hatte ich entgegen jeglicher Mens-Sana-Philosophie zu viel herumgesessen und auch zuviel Alkohol getrunken. Ich war mir aus dem Weg gegangen, was ungefähr das Dümmste ist, das man zur Problemlösung anstellen kann. Jetzt würde ich „mit mir“ 800 Kilometer unterwegs sein und wenn ich auf der Strecke nicht präsent war und mich mit mir konfrontierte, ja, dann wüßte ich auch keine Hilfe mehr.

Am Morgen des 8.9. dann die Verabschiedung von meinen Söhnen, ein paar Tränen auf beiden Seiten – wir sollten uns jetzt 6 Wochen nicht sehen. Nicht sehen heißt eben auch, daß ich zwar anrufen würde, aber keinerlei Videotelefonie betreiben wollte. Letztlich ergab es sich so, daß ich täglich meinen Standort / Status bei Ankunft in der Herberge per WhatsApp in die Heimat durchgab und wir dann so alle drei, vier Tage miteinander telefonierten.
Meine Frau fuhr mich zum Frankfurter Flughafen, wo ich den Rucksack als normales Gepäckstück eincheckte (wegen der Wanderstöcke, s. Vorbereitungen). Das verlief alles, genauso wie die Sicherheitskontrolle, völlig reibungslos. Und während ich bei Letzterer mit meinen klobigen Trekkingstiefeln in Größe 48 locker durchgewunken wurde (ich hätte da ja sonstwas drin verstecken können), mußte ein älterer Mann, offenbar im Rahmen eines Kegel- oder Wander-Clubs unterwegs, seine Halbschuhe ausziehen und wurde gründlicher „gefilzt“. Mir erschloß sich nicht, nach welchen Kriterien das passierte.
Dann hieß es im „internen Bereich“ des Flughafens warten. Bei mir ist es so, daß ich gerne zu solchen Ereignissen mit viel Zeit vorab erscheine, dann aber auch längeres Warten gern in Kauf nehme. Ich las, fotografierte startende Flugzeuge, aß und trank etwas und nach anderthalb Stunden wurde dann mein Iberia-Express-Flug zum Boarding aufgerufen. Busse brachten uns auf das Flugfeld, wo der Airbus 320 wartete. Der Himmel war mit grauen Regenwolken bedeckt. Wir flogen mit ungefähr einer halben Stunde Verspätung ab in Richtung Madrid, aber der Pilot sagte gleich, daß wir durch die Winde über den Pyrenäen diesen Zeitverlust wieder wettmachen würden. Es wurde ein ruhiger Flug.

Als wir nach Spanien hineinflogen (und noch intensiver beim zweiten Flug nach Pamplona), gingen mir die Augen über: unter mir lag ein von der Sonne beige-braungebranntes Land, kleine weiße Ortschaften, hier und da eine Kirche auf einem Berg – herrlich! Ich hatte meinen Camino extra in den Spätsommer gelegt, weil ich die Landschaft nicht im üppigen (jugendlichen) Frühlingsgrün sehen wollte. Sie sollte quasi meiner beginnenden, zweiten Lebenshälfte entsprechen. Hier wurde mir durch diesen Anblick bereits klar, daß ich genau richtig gehandelt hatte.

Der Madrider Flughafen Barajas „Adolfo Suárez“ ist ein riesiges Areal. Ich glaube, ich war von meinem Ankunfts- bis hin zum Abflug-Gate gut eine halbe Stunde zu Fuß unterwegs. Dann noch einmal warten, denn der Anschluß-Flug nach Pamplona gab mir noch eine weitere halbe Stunde Zeit. Nun hieß es auch ein wenig bangen: Das Gepäck sollte laut Iberia Express „durchgeroutet“ werden, also vom Airbus jetzt seinen Weg in die kleine Canadair 200 finden. Als dann die ersten Mitreisenden mit großen Gepäckstücken aufliefen, wurde ich doch etwas nervös… Auf dem Flugfeld wurde deren Gepäck auf einem Anhänger gesammelt – ich hatte nur meine Plastiktüte mit ein paar Dingen in der Hand. Mein mulmiges Gefühl erhöhte sich leicht, als die kleine Maschine rumpelnd zum Start fuhr: Die kann noch fliegen? Aber angesichts des Namens des Flugzeuges, „Catedral de León“, war ich guter Dinge…

Ankunft in Pamplona, Wärme, strahlend blauer Himmel, der mich den grauen Vorhang von Frankfurt vergessen ließ. Das Gepäck wurde aus der Maschine wieder auf einen Anhänger geladen und meine Mitpassagiere holten es sich ab. Muffensausen… Also hin zu einem der Arbeiter und mal kurz gefragt: „Por favor, busco mi mochila…?!“ (Bitte, ich suche meinen Rucksack…) Aber dann die erlösende Antwort: Ja, der Rest wird direkt zum Gepäckband gefahren, wo mein Rucksack dann auch fast als letztes Gepäckstück „an Land“ kam. Aufatmen – jetzt hatte ich wirklich das Gefühl: Was soll noch schiefgehen? Beide Flüge waren gut verlaufen, ich hatte meinen Rucksack mit all meinen Sachen, ich war in Pamplona, in Spanien… Jakobsweg, ich komme!

Ursprünglich wollte ich mit dem Bus in die Innenstadt von Pamplona zum Busbahnhof fahren, aber nun hatte ich den Eindruck, ich könnte den Abholtermin dort verpassen, so daß ich ein Taxi nahm. Abholtermin? Nun, ich hatte die Anreise im voraus geplant, weil ich in einem Forum von der Herberge Corazón Puro gelesen hatte, die von Istvan und Barbara betrieben wurde (Nachtrag: seit 2016 führen andere Personen das Haus offenbar unter gleichem Namen). Istvan bot an, mich in Pamplona an der Estación de Autobuses abzuholen und am Morgen nach St.-Jean-Pied-de-Port zu fahren. Das alles zu einem so fairen Preis, daß es für mich die bestmögliche Anreise darstellte.

Der Taxifahrer fragte als erstes in breitem Spanisch: „Camino de Santiago?“ und war natürlich neugierig, warum ich mit dem Taxi zum Busbahnhof wollte… Ich klaubte all mein rudimentäres Spanisch zusammen und erklärte es – offenbar zufriedenstellend. Als er mich im Parkdeck unter dem Busbahnhof absetzte, war er dann auch die allererste Person, die mir „Buen Camino!“ wünschte, was meine Augen wieder ein wenig feucht werden ließ. Ja, jetzt war ich hier, jetzt würde mein „Abenteuer“ beginnen und mich keiner mehr davon abhalten können.

Istvan kam pünktlich, und auf der ca. vierzigminütigen Fahrt nach Viscarret / Bizkarreta sprachen wir über Gott und die Welt – auf Englisch. Damals konnte ich es noch nicht wissen, aber mein Camino war ein ausgesprochen englischsprachiger… Und Istvan sagte übrigens, daß in der letzten Woche Deutsche Pech gehabt hätten: deren Gepäck sei eben nicht am gleichen Tag in Pamplona angekommen, so daß ihr Start durcheinandergebracht und um ein oder zwei Tage verschoben wurde.

In der Herberge wurde mir mein Zimmer gezeigt, das ich für mich allein haben würde, da nicht so viele Pilger angekommen waren. (Von der Streckenführung her ist Viscarret kein typischer Etappenort; die meisten Pilger passieren den Ort vermutlich nur.) Drei ältere Amerikaner waren bereits im Aufenthaltsraum, John, Cathy und Linda, die ich noch wesentlich öfter treffen würde, dazu noch ein französisches Paar, das hier seine Pilgerreise aus Frankreich kommend beendete.
Beim Abendessen war ich dann der leicht überforderte Sprachvermittler: mein Rest-Französisch mußte reichen, um das, was die Amerikaner sagten, den Franzosen näherzubringen – und umgekehrt. Und bald rauchte mir der Kopf am Ende eines langen Tages. Aber wie das so ist: einschlafen konnte ich dann doch nicht gut. Mein Körper fühlte sich irgendwie zittrig an; ich weiß nicht, ob es daran lag, daß ich den Tag über zu wenig getrunken hatte oder ob es das Glück und die Aufregung waren, die ich nun empfand. Ich schlief unruhig, war immer wieder wach, mich fröstelte ein wenig – und dann war der Morgen schon da…

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