Estella bis Los Arcos (CF13)

[Die Seite ist Teil des Berichts über meinen Camino Francés 2015.]

Ich glaube, so gerädert wie an diesem Morgen war ich nie wieder auf dem gesamten Jakobsweg. Nach 33 Kilometern vorgestern und 25 Kilometern gestern war heute ein Ausnahmetag im Rahmen meines gesamten Pilgerweges.

Zunächst ging es aber noch locker los: kurzes Frühstück in der Herberge so mit Jugendherbergs-Flair. Da Helga und ich weder an der Abendmesse noch dem gemeinschaftlichen Abendessen teilgenommen hatten, empfand ich es so, als wären die Hospitaleros etwas unfreundlicher uns gegenüber gewesen als noch bei der Ankunft gestern. „Echte Christen“ eben… Dafür habe ich ihnen deutlich sichtbar einen Zehner ins Kästchen gelegt.

Beim Verlassen Estellas wählten wir den direkten Weg am Freibad (Untergrund der „Liegewiese“: Beton!) entlang, was uns recht schnell zu der berühmten „Weinquelle“ der Bodegas Irache führte. Dort gibt es einen Hahn für Rotwein und einen für Wasser, an denen sich die Pilger frei bedienen können. Ich probierte den Wein, der nicht wirklich gut war, aber das ist ja wohl auch nicht zu erwarten, wenn er in Massen kostenlos unter die Pilger gebracht wird.

Beim Weitergehen merkte ich plötzlich, daß meine Hüften anfingen zu schmerzen, daß zusätzlich mein Kopf schwer wurde und ich das Gefühl bekam, keine zwei Kilometer mehr laufen zu können. Woher das so überraschend und in dieser Kombination kam, weiß ich nicht. Meine Vermutung war: ich hatte in Obanos ein paar Dehnungsübungen gemacht und dabei die Hüftgelenke wohl etwas überanstrengt, die ja sowieso an dem Tag schon 33 Kilometer „drauf“ hatten. Andererseits hatte ich vor vielen Jahren im Hüftgelenk eine Schleimbeutelentzündung, die nicht nur sehr schmerzhaft, sondern auch lang andauernd gewesen war… Hoffentlich, so dachte ich, ist das jetzt nicht wieder so etwas – dann müßte ich aufgeben.

Kurz wurde ich durch ein Gespräch mit einem hageren Zwei-Meter-Mann aus Wien abgelenkt, wohl Theologiestudent auf dem Weg von – eben – Wien zu Fuß nach Santiago. Beachtlich, was dieser Mann leistete und in welchem Schrittempo er unterwegs war. Nach ein paar Minuten verabschiedete er sich höflich, er wolle nun wieder sein Tempo gehen – und fort war er.

Mein Unwohlsein, die Schmerzen in den Hüften, auch die damit verbundenen Befürchtungen steigerten sich so, daß ich am liebsten keinen Menschen mehr gesehen hätte, mit niemandem reden und mich einfach irgendwo in ein Bett legen wollte. Ich sagte Helga, was los war und bat sie, in ihrem Tempo vorzugehen und nicht auf mich zu warten.

So schleppte ich mich auf meine Stöcke gestützt durch die sehr schöne, weiterhin recht hügelige Landschaft, machte Bilder von den Stoppelfeldern vor den Bergen im Hintergrund, und fand in einem hinkenden Schaf einen liebenswerten Leidensgenossen.
Helga wartete doch – mal hier, mal da… das fand ich sehr nett. Und auf den letzten Kilometern lenkte mich unser Gespräch ab, so daß wir bald in Los Arcos ankamen. Gleich in der ersten Herberge „La Fuente“ bzw. jetzt „Casa Austria“, da von einer österreichischen Jakobusbruderschaft betrieben, ergatterten wir Betten in einem kleinen Raum mit Dennis aus den Niederlanden, der uns schon vom Fenster herab gewunken hatte.

Ich ging schnell duschen, nahm zwei Ibuprofen-Tabletten sowie Magnesium, legte mich ins Bett und schlief drei Stunden fest. Als ich dann wieder aufstand, waren die Schmerzen zurückgegangen und der Kopf weitgehend frei. Und Helga hatte meine Wäsche mit zu ihrer in die Waschmaschine gepackt, so daß sie jetzt schon wieder frisch gefaltet auf meinem Rucksack lag. Das ist wahre Pilgerfreundschaft: wer solche Gefährten hat, der ist nicht allein. Es sind diese Momente und Erinnerungen, die mir jetzt beim Schreiben eine Gänsehaut bescheren.
Oder, um es mit meinem Lieblingsautor, wenn es um Camino-Memoiren geht, Kevin A. Codd (2008), zu sagen:
„I am learning something here about the camino: an expansive generosity and spontaneous kindness has been woven into this way that begins to touch us all, making us more caring ourselves and then more trusting. Step by step we are walking out of our fear. We are learning that it is easier to care than to not care. We are being softened even as our feet are being toughened.“

Langsam gingen wir bei beginnendem Regen in den Ort, schauten uns Kirche, Kloster und Kreuzgang an, aßen unser Pilgermenü und besuchten die Pilgermesse. Die Marienstatue, ich hatte es schon erwähnt, ist eine der schönsten, die ich auf dem Jakobsweg gesehen habe. Eine Postkarte mit diesem Motiv sandte ich nach Hause an meine Eltern. Ich bin wahrlich kein großer Schreiber und habe das typische Ansichtskartenschreiben aus dem Urlaub schon vor langer Zeit aufgegeben. Für den Camino hatte ich jedoch ein paar Menschen – neben meinen Eltern – versprochen, ihnen eine Karte zu senden, das löste ich also über die Wochen hinweg ein.
Die Kirchen am Jakobsweg sind oft mit prächtigen, vergoldeten Altären ausgestattet; Kritiker sprechen vom „gestohlenen Inka-Gold“… Hier in Los Arcos war es doch sehr beeindruckend: Die Kirche war zunächst normal beleuchtet, der Altarraum recht dunkel, nur die mittig platzierte Madonna mit Kind angeleuchtet. Dann begannen die Frauen des Ortes mit einem langen Rosenkranzgebet, das Licht im Hauptschiff wurde ausgeschaltet und plötzlich wurde der Altarraum mit hellem Licht überflutet, so daß er wie eine Goldwand glänzte.

Nach der Messe wurde der Pilgersegen gesprochen, den der Priester dann noch als Faltblatt in diversen Sprachen an die Pilger verteilte. Schön war es, daß die Pilger nach vorne zum Altar gebeten wurden, um den Segen zu empfangen. Nach Roncesvalles war dies mein zweiter Pilgersegen – doppelt hält wohl besser…
Vor dem Schlafengehen setzten Helga, Dennis und ich uns noch im Aufenthaltsraum der Herberge zusammen, tranken ein Bier, planten den kommenden Tag.
Aber eine Begebenheit muß ich nun noch erwähnen: Zwischendurch, ich glaube, vor dem Gang in den Ort, saß ich in einer Sitzecke der Herberge und kam mit einer deutschen Frau ins Gespräch. Ich klagte über meine Hüftschmerzen in Verbindung mit der Hoffnung, daß es nichts Ernstes sei. Woraufhin sie sagte: sie gehe ihren Jakobsweg mit zwei neuen Hüftgelenken quasi aus Dankbarkeit für die gut verlaufenen Operationen…
Das war ja, wie ich auch meinem Memo anvertraute, ein Schlag ins Gesicht meiner – äh, nun ja – Wehleidigkeit oder, sagen wir, meines Fokussiert-Seins auf eigenes Empfinden. Und wenn ich schon in Obanos über das Thema „Demut“ sinnierte (die auch nach außen, auf andere zugeht), so war diese Begegnung noch einmal der Wink mit dem sprichwörtlichen Zaunpfahl… Die Frau habe ich nur dieses eine Mal gesehen, sonst nie wieder. Auch heute – im Rückblick – wirkt sie wie eine Art Botschafterin. Und die Botschaft mußte ungefähr lauten: Nimm dein Ego zurück, öffne dich anderen, öffne dich für Gott.
Bei Burns (2013) fand ich die schöne Aussage: „Perhaps a pilgrimage is a classroom. We learn there is the possibility for a different level of community, a real communion. We then have the opportunity – responsibility – to carry this home.”

Helga und ich nahmen uns vor, am kommenden Tag nur bis Viana zu gehen, nicht bis Logroño. Alles in allem hat dieser Tag doch noch eine gute Wendung genommen.

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