Itero de la Vega bis Villalcázar de Sirga (CF23)

[Die Seite ist Teil des Berichts über meinen Camino Francés 2015.]

Die heutige Etappe hatte ich extra so geplant, daß ich nach Villalcázar kam, denn dort befindet sich eine auf den Templerorden zurückgehende Kirche, die Iglesia de Santa María la Blanca, die ich mir unbedingt anschauen wollte. Die Kirche wurde zwischen dem 12. und 14. Jahrhundert gebaut, sie wirkt fast wie eine Festung. Der Ort als solcher beherbergt Pilger seit dem Jahr 1096.
In der Kirche befindet sich die „weiße Maria“, eine ebenso als wundertätig angesehene Statue wie die in Castrojeríz. Alfonso X. „El Sabio“ (der Weise) hat sich in seinen Mariengesängen (Cantigas de María) von dieser Marienstatue inspirieren lassen.

Da der zur Herberge gehörende Laden so früh noch geschlossen war und es kein reguläres Frühstück gab (beziehungsweise ich am Vorabend nicht nach dem Frühstück gefragt hatte), packte ich meine Sachen, zog die Haustür hinter mir zu und stand um 6:15 Uhr auf der Straße. Wie das oft so war: kommt man zum Hauptweg zurück, ist doch schon der eine oder andere Pilger unterwegs. Eine Zeitlang ging ich heute morgen im Schein unserer Stirnlampen mit Francois. Ein paar Worte auf französisch getauscht, dann rauschte er in seinem Tempo ab. Die Sonne kam über den abgeernteten Feldern empor, als ich in das wenig hübsche Örtchen Boadillo del Camino kam, wo trotz Sonnenaufgang der Hund (noch) begraben lag. Es war ein herrlicher Morgen mit weitgehend blauem Himmel und hohen Cirruswolken.

Bald nach Boadillo traf ich auf den Canal de Castilla, den alten Bewässerungskanal, dessen Bau 1753 begonnen wurde. Das ist ein schönes Fleckchen Erde mit viel Grün und vermutlich auch interessanter Vogelwelt an dieser Schnittstelle zwischen Wasser, Hecken und Feldern.
Eine ganze Weile ging ich am Kanal entlang, in dessen Umfeld eine komplett neue Bewässerungsanlage auf einem großen Feld aufgebaut wurde. Die Erde war umgegraben, Bagger und Radlader fuhren emsig da, wo normalerweise das Korn in aller Ruhe wächst.
30 Kilometer hatte ich heute vor mir – der zweite Tag meines zum Scheitern verurteilten Versuchs, den unliebsamen Mitpilgern zu entgehen. Bald mußte ich eine Schleuse des Kanals auf schmaler Brücke überschreiten und kam nach Frómista, einem Industriestädtchen, das durchaus schöne Kirchen zu bieten hat. Aber wie das so ist: die sind oft nur am späten Vor-, dann wieder am späten Nachmittag bis in den Abend offen, das heißt für den, der im Ort bleibt. Somit habe ich z.B. die in Führern empfohlene Kirche St. Martín mit der darin befindlichen Jakobusstatue nicht gesehen.

Ich ging einfach weiter, gab auch nicht dem Verlangen nach einem Frühstück nach: da würde sich noch ein schöneres Plätzchen finden.
Am westlichen Ende verläßt man Frómista durch einen Kreisel, dann folgt eine veritable Pilger-Autobahn… Es ging kilometerlang und schnurgeradeaus neben einer Bundesstraße her, die zum Glück nicht so stark befahren war. In Población de Campos ging ich in eine Bar, ich glaube, sie hieß Arrabal, aß ein sehr leckeres, warmes Bocadillo mit Fleischstreifen und Paprika und trank den vermutlich besten Kaffee meines ganzen Caminos. Dann passierte es: beim Packen des Rucksacks vor der Bar kniete ich mich und spürte sogleich, daß etwas im schon angeschlagenen Knie knackte und beim Weitergehen zu schmerzen begann. Hatte ich mein Glück und meine Gesundheit mit den zweimal 30 Kilometern doch zu sehr „gepusht“? Aber anstatt die Lektion zu realisieren, über dich ich eben schon in Verbindung mit dem Bier gesprochen hatte, da ich diesen Schmerz der schon am Vortag realisierten Überlastung des Knies zuschrieb, ging ich nun genervt weiter. Trotz allem habe ich mich weiterhin mit Hilfe meiner Stöcke vorsichtig hingekniet, um Blumen am Wegesrand zu fotografieren.

Auch diese 30 Kilometer gingen vorbei und ich traf in Villalcázar de Sirga ein, schon von weitem die mächtige Templerkirche erblickend. Doch zuerst zum Ende des Ortes, zur Herberge „Tasco Don Camino“. Hier sah ich das, was ich weiter oben schon beschrieben habe: reservierte Betten – das waren nur die unteren. Ich wusch meine Sachen, wunderte mich erneut über Toiletten ohne Toilettenbrillen, cremte meine Knie mit Voltaren ein, nahm vorsorglich eine Ibuprofen und machte mich gleich auf zur Kirche, die im hellen Mittagslicht strahlte. Langsam umrundete ich das massive Bauwerk und ließ es auf mich wirken, erst dann betrat ich es und sah gleich, daß Schneeweißchen schon auf einer der Bänke saß… Wenn man eigentlich eine Lektion bereits gelernt hat, dann bedarf es manchmal doch der Auffrischung… Wie kam Schneeweißchen so schnell an diesen Ort? Wo war Rosenrot? Fragen, die jedoch meinen Wesenskern nicht tangieren sollten – und die in Anbetracht des Ortes zweit- oder drittrangig erschienen.

Die Kirche machte auf mich einen gewaltigen Eindruck. Der Ort ist, wie erwähnt, seit 1096 Pilgerstop, er war ein sogenannter Kommandoposten des Ordens der Templer, genauer: des Ordens der Armen Ritterschaft Christi und des salomonischen Tempels zu Jerusalem. Ich bewegte mich langsam und aufnehmend durch die Kirche, sah mir den großartigen Jakobus-Altar an, den man laut Brierley (2015) gesehen haben muß, selbst wenn man mit Kirchen nicht viel „am Hut habe“. Ich betrachtete die Grabmale nobler Damen und Herren und die verschiedenen Marienfiguren. Ich weiß nicht genau, ob die Statue (mit weißem Schleier) die „María la Blanca“ ist oder eine andere, aber diese konkrete Figur, die mit einem wachen Auge durch den Schleier auf die vor ihr stehenden Menschen schaut, hat mich sehr berührt. Die feinen Gesichtszüge, das verzierte, edle Gewand, die Hände in einer Geste zwischen Gebet und Geben, die anzudeuten schienen: ich komme auf dich zu, bin für dich da. Eine ohne Frage sehr berührende Figur.

Ich saß eine Zeitlang auf einer Bank, betete, ließ den hohen Kirchenraum mit seinem schräg durch Fensterrosetten einfallendem Licht auf mich wirken.
Draußen vor der Kirche saß ein Bronzepilger auf einer Bank und wartete auf Fleischpilger, die sich zwecks Foto neben ihn setzen würden. Ich ging kurz in eine Bar, saß im Schatten eines Sonnenschirms und ließ alle Eindrücke erst einmal sacken, später dann kehrte ich in die Herberge zum Abendessen zurück.

Hier luden mich Clara und Novi, zwei Frauen aus den USA (bzw. Dänemark, wo Novi heute lebt) ein an ihren Tisch. Das Essen wurde über ein sehr anregendes Gespräch eher zweitrangig. Clara berichtete über ihren Sohn, der, soweit ich verstand, bei einem SAR-Team der Air Force als Helikopter-Pilot arbeitete. Man hat gemeinsame Pläne: Mutter und Sohn wollen nach Ausscheiden des Sohns aus dem aktiven Dienst gemeinsam den Appalachian Trail wandern, immerhin 3500 Kilometer durch die östlichen Staaten der USA. Novi war eher stille Teilnehmerin, aber zwischen mir und der sicher über sechzigjährigen, zierlichen Clara war eine sympathische Schwingung zu spüren. Clara sagte mir später, sie sei emeritierte Professorin. Irgendwie kamen wir auf Israel zu sprechen und auf die Taufstellen Jesu im Jordan, von denen meines Wissens drei existieren: zwei auf israelischem Territorium und eine, die vermutlich historisch korrekteste, in Jordanien.

(Nachtrag 2020: Das ist so nur bedingt korrekt: die vermutlich historisch korrekteste Taufstelle liegt an beiden Ufern des Jordans, teilt sich auf jordanisches Terrain und israelisches auf, also sich genau gegenüberliegend. Auf israelischer Seite ist das Qasr al-Yahud, auf jordanischer El-Maghtas.)

Clara und ich stellten fest, daß wir beide bereits darüber nachgedacht hatten, uns bei einer zukünftigen Israelreise im Jordan (erneut) taufen zu lassen.
Vielleicht muß ich das erklären: ich bin getauft und die Taufe wird nicht „ungültig“ durch das Verlassen der Kirche. Mir ginge es bei so einer Aktion eher darum, meinen wiedergefundenen christlichen Glauben zu vertiefen und dafür auch ein „Zeichen“ zu haben, eine Handlung, die mit diesem Umstand verbunden ist.

(Nachtrag 2020: Ich habe mich beim Besuch in Qasr al-Yahud nicht neu taufen lassen.)

In der wilden Mischung von Themen, über die man als Pilger so spricht, kamen wir darauf, daß Clara einen grünen Hut mit Muschelemblem gesehen habe, den jemand auf einen Kilometerstein gelegt hatte, so daß für den Eigentümer, der ihn eventuell suchen würde, besser zu sehen sei. Ich sagte Clara: ja, das war ich, ich habe ihn da hingelegt, nachdem ich ihn gut eine Stunde mitgeschleppt hatte.
In unserem „gemütlichen“ 20er-Schlafsaal waren auch wieder die Frankokanadier vom Vorabend und wieder fiel mir ein sehr dicker und unfreundlicher Mann aus dieser Runde auf. Er schnarchte in der Nacht so laut, daß mehrere Personen ihre Matratzen nahmen und sich damit unter das Vordach in den Garten legten. Und am Morgen gab der Herr seinen Rucksack bei Jacotrans auf, damit er nach der anstrengenden Arbeit in der Nacht nicht soviel zu tragen hätte…

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