Im Rahmen der Lebensreform hat mich schon länger das Thema „Jugendbewegung“ interessiert, allerdings habe ich bis dato darüber kaum etwas gelesen. Zwar besitze ich zwei alte Wandervogel-Liederbücher, nämlich den Zupfgeigenhansl von Hans Breuer aus dem Jahre 1913 (und da vorne ein Besitzvermerk von Juli 1913 eingetragen ist, kann es durchaus sein, daß das Büchlein auch beim Ersten Freideutschen Jugendtag auf dem Hohen Meißner mit im Gepäck war) sowie das Wandervogel-Liederbuch von Frank Fischer aus dem Jahre 1912 (für das gleiches gilt). Aber diese Büchlein entsprangen dem Interesse an Volks- und Wanderlied, also nicht dem an der Wandervogel-Bewegung als solcher. Aber doch sind sie ein Strang in diesem langsam sich formulierenden Wunsch nach weiterer Lektüre, weiterem Kennenlernen. Ein Meilenstein war für mich Der Wanderer zwischen beiden Welten von Walter Flex. Dieses Zitat ist mir seitdem immer präsent:
„Gelassenheit war eins seiner Lieblingsworte, in ihr sah er das Wesen menschlicher und männlicher Würde, heitere und lässige Sicherheit lag immer wie ein Glanz über seinem Wesen, und es war in ihr soviel menschliche Anmut wie männliche Würde.“
Einen Überblick über die Jugendbewegung gab mir das Werk Die Deutsche Jugendbewegung 1895 – 1933 von Kurt P. Martens (ich meine hier v.a. die „harten Fakten“, nicht die weltanschaulichen Aberrationen des Autors).
Nun habe ich mir aus verschiedenen Quellen die Standardwerke über Wandervogel, Jugendbewegung, Bündische Jugend herausgeschrieben und beschlossen, mit dem von Ulrich Herrmann herausgegebenen Werk „Mit uns zieht die neue Zeit…“ – Der Wandervogel in der deutschen Jugendbewegung – (Juventa 2006) zu beginnen (Rezension bei socialnet). Im übrigen gibt es das Werk Vom Wandervogel bis zur Hitlerjugend, Jugendarbeit zwischen Politik und Pädagogik, von Hermann Giesecke als Komplett-PDF im Netz. Als nächstes steht dann die ‚Blaue Blume‘ auf dem Kaufzettel.
Interessant ist das Thema auch, weil es 2013 ein weiteres Treffen auf dem Meißner zur Hundertjahrfeier geben soll. Doch die Gruppen sind hier v.a. deswegen in der Diskussion, weil man sich uneinig darüber ist, wie Bünde mit „rechter Tendenz“ (was auch immer man darunter verstehen mag) zu behandeln seien. Ich habe dazu vor kurzem einen guten Artikel „Die Bündische Szene und der Rechtsextremismus“ von FW gelesen, ein Dokument, das ich hier jedoch nicht verlinken / einbinden kann, da es mir quasi privat zur Verfügung gestellt wurde. Neben einem kurzen Abriß der Bündischen Bewegung wird darin auch auf diese Diskussion um „unerwünschte Gruppen“ beim 2013er Treffen eingegangen. Ich erfuhr, daß die Deutsche Gildenschaft, die Fahrenden Gesellen, der Deutsche Mädelwanderbund sowie Freibund und Sturmvogel von der Teilnahme ausgeschlossen worden seien. Die Bündische Szene sei, so der Autor, quasi in zwei Teile gespalten: der eine fordere Abgrenzung und Ausschluß, der andere stehe auf dem Standpunkt, daß es sich dabei um undemokratisches Vorgehen handele, das gerade die Kinder und Jugendlichen in den kritisierten Bünden von demokratischem Verhalten entfremden könnte.
Zu diesen Diskussionen finden sich einige Artikel auf den Seiten der Kulturinitiative Lebendig Leben (Domain abgeschaltet, 2022) vielleicht lese man hier insbesondere den Bericht von Isabel Sahm (Deutsche Gildenschaft, Domain abgeschaltet (2022)) über die Teilnahme an einem Seminar auf Burg Balduinstein zum Thema rechtsextremistischer Tendenzen im Bündischen Bereich, denn die dort aufgeführten „Methoden“ werden auch in anderen gesellschaftlichen bzw. kulturellen Bereichen gegen „politisch nicht korrekte“ Personen und Gruppen angewandt. Selten las ich das so präzise beobachtet und geschildert wie im Text von Sahm. Der Text hat damit einen über die Bündische Szene hinausgehenden Charakter.
Im Netz wird dieser Konflikt – vereinfacht gesprochen – von zwei Seiten repräsentiert: Buendische-Vielfalt.de (Deutsche Gildenschaft) vs. Rechte-Jugendbuende.de (u.a. Deutsche Freischar, Bund der Pfadfinderinnen und Pfadfinder sowie der politisch links zu verortende Journalist Maik Baumgärtner). Sicher gibt es viele andere Dinge, die auch Thema der anhaltenden Planung sind (z.B. ein Treffen ohne Nikotin- u. Alkoholkonsum), aber das entzieht sich meiner Kenntnis als Außenstehender. Die Sache mit Nikotin und Alkohol hat historische Wurzeln, sie findet sich in der Meißnerformel von 1913:
„Die Freideutsche Jugend will aus eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung, mit innerer Wahrhaftigkeit ihr Leben gestalten. Für diese innere Freiheit tritt sie unter allen Umständen geschlossen ein. Zur gegenseitigen Verständigung werden Freideutsche Jugendtage abgehalten. Alle Veranstaltungen der Freideutschen Jugend sind alkohol- und nikotinfrei.“
(Bis hierher ist der Beitrag bereits im Herbst 10 geschrieben worden.)
Nachdem ich nun einiges im o.e. Werk von Herrmann gelesen habe, stellt sich mir die Frage, wohin ein neues Treffen auf dem Hohen Meißner führen kann. Das historische Treffen 1913 war ja auch deshalb so besonders, weil die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts vorhandene Wandervogelbewegung vor ihrem Ende (1. Weltkrieg) stand. Danach ging es mit veränderten Inhalten (oder sagen wir: mit verändertem Fokus) im Rahmen der Bündischen Bewegung weiter. Ganz interessant dazu der Vergleich der Liederbücher, den Helmut König im Herrmannschen Buch anstellt: „Der ‚Zupfgeigenhansl‘ und seine Nachfolger“. König vergleicht das Liederbuch der Wandervogelzeit, den Zupfgeigenhansl, mit dem herausragenden Buch der Bündischen Zeit, „St. Georg“, sowie der Liedersammlung „Der Turm“ aus der Periode von 1945 – 70. Es ist erstaunlich, wie sich Inhalte wandelten, was sich am Liedgut abbildete. Der Turm enthält etliche ausländische Lieder, wohingegen diese im St. Georg nicht vorkamen, da man deutsches Volkstum betonte. Ulrich Herrmann schreibt, den Wandervögeln sei „in ihren Gruppen kaum je zum Bewußtsein gekommen“: „Nähe zu einem völkischen Gedankengut von ‚deutscher Art‘ (…), innere Affinitäten zu einer rückwärtsgewandten Romantik von Volk und Heimat“ usw.
Mir wurde an diesem Vergleich deutlich, wie weit sich der historische Bogen von den Anfängen am Steglitzer Gymnasium bis in die heutige Zeit spannt.
Und gerade durch den Ausschluß einiger Bünde vom geplanten Treffen 2013 auf dem Hohen Meißner ist die ursprüngliche Meißner-Formel, wenn man das so strikt sehen möchte, ad absurdum geführt worden, da die Jugend eben gerade nicht mehr „unter allen Umständen geschlossen“ auftritt. Sei’s drum, ich blicke von außen auf diese Dinge und muß im Grunde keine Stellung beziehen. Ich kann jedoch nicht umhin, die Umerziehungsmechanismen, die seit Kriegsende üblich sind und die Frank Lisson im kleinen Kaplaken-Bändchen „Widerstand“ anprangert, auch hier am Werk zu sehen. Auch unter die Jugend wurde diese Uneinigkeit gestreut.
Wer ein wenig im Netz stöbern will: Die Burg der Jugendbewegung – Burg Ludwigstein, Burg Balduinstein bei Limburg / Lahn, das Portal Wandervogel.de, von dem man zu verschiedensten Gruppen „springen“ kann, obwohl dort alle genannten, im Bündischen Bereich als problematisch verorteten Gruppen nicht zu finden sind, daher hier der Vollständigkeit halber (und als persönliche Auswahl) die Verweise zum Freibund (z.B. mit der Freiburger Erklärung zu den Zielen der Gruppe) und den Fahrenden Gesellen.
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