Wer war Maria Magdalena? Würde ich mich auf das beziehen, was mir in meiner katholischen Erziehung so vermittelt wurde, dann wäre sie auch heute noch für mich die typische Sünderin, die Prostituierte. Diese Sichtweise hat eine lange Tradition, sie geht auf das Ende des 6. Jahrhunderts und Papst Gregor den Großen zurück. Nie ist mir damals aufgefallen, daß Maria Magdalena (fortan MM) der erste Mensch war, der lt. dreien der vier kanonischen Evangelien den auferstandenen Jesus gesehen hat. Sie ist, wie der Untertitel des Buches von C. Bourgeault lautet, „the woman at the heart of Christianity“.
Die Kirche tat sich schwer mit dieser Frau (bzw. tut dies mit Frauen allgemein); immerhin wurde MM 2016 als „Apostelin der Apostel“, einer Bezeichnung, die Hippolytus schon im 4. Jahrhundert geprägt hatte, bekräftigt und liturgisch den Aposteln gleichgestellt, wie es bei der Wikipedia heißt. Die Mühlen mahlen langsam.
Der Filmemacher Garth Davis ist nun angetreten, uns dieses „neue“ Bild von MM zu vermitteln mit seinem gleichnamigen Film aus dem Jahre 2018. Der Film schildert die letzten Lebenstage von Jesus, in denen MM zur Gruppe der Jünger stößt. Wenn ich am Anfang des Textes fragte, wer MM war, dann muß hier eingeworfen werden, daß man so gut wie nichts über sie weiß, was man wirklich faktisch absichern kann. Sie kam aus Magdala (Migdal) am Westufer des Sees Genezareth und hat den Ort irgendwann verlassen, daher die Bezeichnung „aus Magdala“ / „Magdalena“. Sie gehörte zu den Menschen, die Jesus folgten, den Jüngerinnen und Jüngern. Der Film muß nun vieles hinzuerfinden, was vorsichtig geschieht und wohl als gelungen anzusehen ist. Gedreht wurde leider nicht an Originalschauplätzen, insbesondere nicht am See Genezareth, was sich m.E. negativ auf den Film auswirkt. Damit steht der Film nicht allein: auch Risen (Auferstanden) hätte es gutgetan, wenn man am See Genezareth gefilmt hätte.
Die fiktive Background-Story Marias ist glaubhaft konstruiert: die unverheiratete Frau mit Heilbegabung, die von Vater und Bruder verheiratet werden soll, sich aber gegen diese Heirat wehrt. Weil die Familienmitglieder, die alle, wie es früher üblich war, unter einem Dach leben, nicht verstehen, was Maria umtreibt, glauben sie an eine Besessenheit durch einen Dämon. In einer drastischen, gewalttätigen Szene will der Bruder diesen Dämon austreiben, wobei er MM fast ertränkt. Wie zärtlich hingegen ist die kurze Zeit später stattfindende Taufe Marias durch Jesus ins Bild gesetzt!
MM lebt unerfüllt, sie sucht Gott, sie sagt Jesus, sie wolle „Gott kennen“. Ein Leben als Ehefrau wird sie nicht erfüllen können – im aktiven wie passiven Sinn. Als sie die Familie verläßt, um sich Jesus anzuschließen, entsteht ein Tumult, der glaubhaft wiedergibt, wie dieser „Heiler“, der umherzog, Familien spaltete. Rooney Mara, die MM spielt, gibt der Figur eine mönchisch-asketische Haltung, die ihre Bestimmung als Ehefrau wie auch das Thema Sexualität ausblendet. Die Rezensentin Stella Donata Haag schreibt im Tagesspiegel: „Der zugrunde liegende Befund, dass eine Frau im strikt patriarchalen System nur dann stark sein kann, wenn sie sich außerhalb des Sexuellen stellt, könnte kritisches Potenzial entfalten. Würde sich der Film dafür interessieren.“ Das ist in der Tat so. Ich würde sogar noch die Figur des Jesus hinzunehmen, der im Film viel zu alt wirkt und so gebrechlich, zaghaft, ängstlich, daß jedwede erotische Spannung zwischen Jesus und MM a priori ausgeschlossen ist. Man könnte glatt vermuten, daß das so gewollt ist, die keusche, durchaus auch androgyn wirkende Maria und der alte Jesus, der in seiner eigenen Welt ist. Ja, die Jesus-Darstellung hat mir nicht gefallen, weil sie wenig glaubwürdig ist, zumindest in Details. Aber, das muß man klar sagen, Jesus spielt hier eine Nebenrolle. Um ihn geht es nur insofern er bei MM etwas „anschiebt“, das sie dann weiterführen muß.
Die Jünger sind ebenfalls Statisten, die im Grunde Propagandaarbeit für Jesus leisten, dabei ihren eigenen Wünschen nachhängen und glauben, er werde nun den Umsturz einleiten. Petrus ist von Anfang an MM gegenüber kritisch; er beschuldigt sie, die Jünger zu spalten. In der Schlußszene, nachdem MM den Jüngern den Auferstandenen verkündet hat, sagt Petrus, sie habe die Gruppe geschwächt. MM hält ihm vor, daß er seine Botschaft habe, die aber nicht die Jesu sei. Und doch sagt Petrus dann, daß er MM „glaube“. Diese Szene wirkt holprig und nicht ganz nachvollziehbar. Aber wie hätte der Filmemacher das anders darstellen können? MM verläßt die Gemeinschaft der Jünger, entschlossen ihren Weg zu gehen. Aber Petrus‘ Wahrheit ist die, auf der das Christentum aufbaute und insbesondere die patriarchale Kirche. Von Maria Magdalena blieb nur ein apokryphes Evangelium und Reliquien in Vézelay und Saint-Maxime-la-Sainte-Baume.
Überhaupt finde ich die männlichen Jünger sehr eindimensional dargestellt. Positiv ragt Judas heraus, der sich gleich zu Anfang länger mit Maria unterhält und Sympathieträger ist, bevor man weiß: dies ist Judas. Seine Hintergrundgeschichte und sein Motiv für den Verrat sind sehr gut und nachvollziehbar gelungen. Stark ist die Szene, in der MM Judas‘ Hand nimmt und ihm den Verrat vergibt.
Der Film lebt von Entschleunigung und Einfachheit. Ungefärbte Leinenstoffe dominieren die Bilder voller Brauntöne; die Landschaft ist öde, aber nicht ohne Charme. Das letzte Abendmahl ist eine traurige Zusammenkunft; den Jüngern steht die Enttäuschung über Jesus in die Gesichter geschrieben. Der Tod am Kreuz wird filmisch quasi en passant mitgenommen, was ihn dennoch nicht unterbewertet. Es gibt keine letzten Worte Jesu.
Am Tag vor dem Einzug in Jerusalem kommt Jesu Mutter hinzu. Jesus hatte sie rufen lassen (schönes Detail), weil er ahnte, daß seine Zeit zu Ende gehe. Maria gibt MM den Rat, sich auf den Verlust vorzubereiten. Zudem beklagt sie, daß ihr Sohn ihr nie „ganz“ gehört habe, weil da immer die Bestimmung im Hintergrund stand. Auch dieses Gespräch der beiden Frauen ist für mich eine Schlüsselszene.
Der Film macht deutlich, daß das „Königreich“, über das Jesus spricht, eine Entwicklung ist, kein Umsturz, der von außen kommt. Es ist etwas, das „in uns (wächst) mit jedem Akt der Nächstenliebe“, wie es im Film heißt. MM bringt das am Ende auf den Punkt: „Die Welt wird sich nur ändern, wenn wir uns ändern.“
Muß man dieses (Reich-)Gotteserlebnis visualisieren? Nun, der Regisseur hat sich dazu entschlossen. Dreimal werden im Film Sequenzen eingebaut, in denen MM in tiefem Wasser taucht und wie schwerelos schwebt. Von oben fällt das Licht ins Wasser. MM spricht auch mit Jesus über diese Taucherlebnisse aus der Kindheit und fragt ihn, ob man sich Gotterkenntnis so vorstellen kann, wie dieses schwerelose Auftauchen dem Licht entgegen. In der Schlußszene ist MM nicht allein im Wasser, es sind andere Personen zu sehen. Ich finde, daß diese Szenen zu plakativ sind, zu bemüht abstrakt, auf jeden Fall stören sie für meine Empfindung die Aussage und sonstige Ästhetik des Films. Zugeben muß ich natürlich, daß sie rein vom Bild her den großen Kontrast zur ausgedörrten Landschaft darstellen und, ja, auch im übertragenen Sinne zeigen, daß das Reich Gottes unter uns ist, so wie Landschaft und See (Meer) in der gleichen Welt existieren, aber gefunden werden müssen.
Liest man die Kritiken im Netz, z.B. bei Metacritic, dann stößt man auf Meinungen wie jene, der Film habe das Herz am rechten Fleck, aber sein Pulsschlag sei viel schwerer zu finden. Die Auffassung teile ich nicht. Der Film kann auch als Experiment in Achtsamkeit aufgefaßt werden. Setz dich still hin, atme ruhig und tief, laß den Film zwei Stunden auf dich wirken. Ich prophezeie: du gehst mit MM und läßt die restlichen Jünger hinter dir…
Das hat damit zu tun, daß Jesu Botschaft eine leise, aber gewaltige ist. Feindesliebe, Nächstenliebe, Vergebung, das stille, zurückgezogene Gebet – das ist nichts, was laute Töne macht, gar Fanfaren erschallen und Sieger im Scheinwerferlicht glänzen läßt. Wer MM auch und gerade als Mann versteht, wird in diesem Film seine weibliche, aufnehmende, auch asketische Seite kennenlernen. Es ist kein feministischer Film, eine Deutung, die man immer wieder lesen kann, sondern ein ausbalancierender, einer, der die Geschlechterrollen zurechtrückt und Eigenverantwortung und Verantwortung vor Gott in den Vordergrund stellt.