Naturismus (FKK) und Erotik

[Vorbemerkung, nachträglich eingefügt: Nudismus meint Nacktheit um ihrer selbst willen; Freikörperkultur ist Nudismus mit einem Gemeinschaftsaspekt; Naturismus ist Nacktheit im Verbund mit lebensreformerischen Überzeugungen. Ich spreche hier von Freikörperkultur, meine jedoch im Grunde: Naturismus.]

barfussEin Beitrag im Blog ‚Nackte Freiheit‘ (zwischenzeitlich gelöscht) hat mich an die Beendigung dieses begonnenen Textes erinnert. Der besagte Beitrag befaßt sich „eigentlich“ nur mit dem Barfußlaufen, jedoch ist das eingefügte Bild (s. rechts) entweder schlecht gewählt oder bewußt plaziert. Es zeigt u.a. auch einen Fuß, aber darauf schaut man(n) natürlich bei der Pose nicht.

Um was geht es bei der Freikörperkultur, wo bleibt die Erotik? Ich habe mir Gedanken gemacht und möchte sie teilen – mit dem bewußten Hinweis, daß es sich ausschließlich um meine nicht verallgemeinerbaren Ansichten handelt. Dieser Artikel war recht lange „in der Mache“ und bezog sein initiales Momentum aus der Nachricht in der Apotheken-Rundschau, einer Umfrage zufolge sei FKK nicht mehr „in“. Es herrsche noch immer ein massives Ost-West-Gefälle, Zitat: „(Neue Bundesländer: 21,6 Prozent; Alte Bundesländer: 12,1 Prozent). Als noch immer sehr FKK-begeistert outeten sich in Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg sogar drei von zehn der befragten Männer und Frauen (Mecklenburg-Vorpommern: 30,1 Prozent; Brandenburg: 29,4 Prozent). In den Alten Bundesländern scheinen sich vor allem die Baden-Württemberger beim Nacktbaden und -sporteln wohlzufühlen (19,2 Prozent).“
Das mit Mecklenburg-Vorpommern überrascht nicht, liegt dort doch das klassische FKK-Gebiet an den Stränden der Ostsee (s. Blogbeitrag Fischland, Darß, Zingst). Diese Nachricht ist im Sommer durch die „Blogosphäre“ gegangen.

Zwischenzeitlich ging auch Deutschlandradio Kultur mit einem Kurzbericht auf die Freikörperkultur ein: Nackt in Deutschland. Mir gefiel der Text nicht so, da er meinem Empfinden nach FKK wie ein exotisches, zu belächelndes – oder kritisierendes – Phänomen beschreibt. Nach der Lektüre verfaßte ich eine ‚kurze (zynische) Geschichte der FKK‘ für einen anderen Blogbeitrag, die nun aber hier eingebaut wird:

„So lautet eine Kurzversion der Geschichte der Freikörperkultur: Erfunden Anfang des letzten Jahrhunderts von bürgerlichen, verschrobenen Zurück-zur-Natur-Spinnern, die gleich auch Rassisten und Antisemiten waren, gleichgeschaltetet und arisch überhöht bei den Nazis, duckmäuserisch-angepaßt in der jungen Bundesrepublik, Freiheitsnische in der DDR, vor dem Aus am Anfang des 21. Jahrhunderts – und die Spinner sind wieder da: Nacktjogger, Nacktwanderer pp.“

Es ist schon interessant, sich dies einmal durch den Kopf gehen zu lassen. Wir leben in einer der freizügigsten Gesellschaften, die man sich vorstellen kann. Es ist nicht unüblich, Menschen in sexualisierter Aufmachung und (halb)nackt bei Großereignissen auf den Straßen und in der Fernsehübertragung bzw. im Internet zu sehen. Auch ist bekannt, daß Pornographie offenbar eine weite Verbreitung auf den Handys von pubertierenden Kindern hat und ggf. deren Einstellung zu Sexualität negativ beeinflussen kann.
Aber nackt an den Strand gehen, das ist vielen dann doch ‚irgendwie zu freizügig‘, so mag man folgern. Oder ist der Strand „zu ‚uncool'“ fehlt der „Kick“? Also werden neue Trends kreiert: Nacktwandern, Nacktjoggen, Nacktradfahren. Es gibt ja mittlerweile richtige „Nacktwanderwege“.

Wenn ich mir versuche, aus diesen Beobachtungen ein Bild zu machen, dann komme ich initial auf typisch subkulturelle Verhaltensweisen im einen wie im anderen Fall. Was die „offenherzigen“ Umzüge à la CSD angeht, so werden sie von Mitgliedern unterschiedlicher, aber in ihrer „Andersartigkeit“ doch verbundener, sexueller Subkulturen durchgeführt. Manch Homosexueller mag jetzt über diese Aussage stolpern und fragen, ob ich Homosexualität als „Subkultur“ verorte. Nein, das tue ich nicht per se, ich trenne aber doch zwischen den Homosexuellen, die ich im Alltag als Menschen wie andere erlebe, und jenen, die sich in freizügiger Aufmachung demonstrativ auf die Straße begeben oder in anderer Art ein „Sendungsbewußtsein“ zur Schau tragen (s. Homosexuelle organisieren „Massenknutschen“ vor dem Papst) – im übrigen genau so, wie ich zwischen der Krankenschwester oder dem Steuerberater im Alltag und selbigen in ihrem SM-Outfit bei cutting-, branding-, younameit-Spielen trenne).

(Weiterhin mag die Frage gestellt sein, ob diese Auftritte wirklich in der Bevölkerung das erklärte Ziel (Verständnis, Toleranz) erreichen, oder ob sie eher verstören. Wenn es darum geht, aus einer Subkultur heraus die „Hauptkultur“ zu erreichen, also dort um Akzeptanz zu werben, dann würde ich auf nichts anderes als Seriosität – und nicht auf nackte Hintern – setzen. Aber gut, Subkultur heißt immer auch Abspaltung, (geliebtes) Anderssein – vielleicht dominiert doch die Selbstdarstellung und nicht die Aufklärung und Werbung um Akzeptanz vom ‚mainstream‘ abweichender Lebensstile.)

Im Fall der Nacktwanderer sieht es etwas anders aus: Ich möchte das Wort „Sendungsbewußtsein“ wählen, das mir im subkulturellen Milieu öfter schon negativ aufgefallen ist. Es ist dieses Mitteilungsbedürfnis: „ich bin anders – seht ihr das?!“ Dabei wird im konkreten Fall das eigene, so verstandene Recht, sich irgendwo in der Öffentlichkeit unabhängig von Kleidungskonventionen nackt zu bewegen, über die Empfindungen anderer gestellt, die sich evtl. gestört fühlen könnten. Beide Gruppen zeigen also demonstrativ in der Öffentlichkeit: so sind wir, schaut her, wir sind anders – „und das ist auch gut so“. (Siehe dazu auch Bilderstrecke der Abendzeitung unter der Überschrift Hauptsache Aufmerksamkeit.)
Würde jeder Mensch nur für sich selbst definieren, welche moralischen Maßstäbe er anlegt und was er wieweit toleriert, dann käme eine Gesellschaft nicht weit. Es muß also verbindliche Regeln geben. Ich will ein Beispiel einfügen: Auf einem Open Air der Gothic-Szene beobachtete ich einmal ein Paar, das sein BDSM-Spiel in der Öffentlichkeit auslebte. Der dominante Mann führte die Frau an einer Leine herum. Wenn er an einem Bierstand halt machte, mußte sie sich neben ihn auf den Boden knien. Nach weiteren Demutsbezeugungen erhielt auch sie etwas zu trinken.
Frage: Wie definiere ich Grenzen eines öffentlich vertretbaren Verhaltens? Auch: was hält Otto Normalbürger von solchen Dingen ab? Ein Gefühl des „Anstandes“, des Sich-lächerlich-Machens? So wenig ich mich persönlich an Nacktwanderern oder -radfahrern störe, es muß doch die Frage erlaubt sein, ob alles, was machbar ist, auch gemacht werden muß. Es muß gefragt werden, ob man von Mitgliedern einer Gesellschaft das Einhalten bestimmter Konventionen (jenseits der Strafgesetzgebung) fordern kann. Das wiederum ist eine Frage, die ja im Grunde in alle Gesellschaftsbereiche hineinreicht. Man sieht, der Weg vom Nacktjogger zum Genmais ist ein kurzer. 😉

FKK ist nicht mehr ‚in‘, man zieht sich am Strand nicht mehr aus, dafür setzen einzelne Gruppen mit Nacktaktivitäten Signale – in welche Richtung auch immer.

Ich glaube, daß hier eine Thematik hereinspielt, die so alt wie der Naturismus bzw. die Freikörperkultur ist: das ist das Spannungsfeld zwischen Nacktheit und Erotik, zwischen Natürlichkeit und Anzüglichkeit, letztlich zwischen ausgelebter Sexualität und Askese.
Ich habe dazu bislang kein besseres Zitat gelesen als das von Oliver König in seinem Essay „Die Nacktheit beim Baden“ (in: M. Grisko (Hrsg.): Freikörperkultur und Lebenswelt, Kassel 1999).
Er schreibt, die „FKK-Ideologie“ beinhalte „… daher auch einen Erfahrungsanteil, d.h. sie ist insofern zutreffend, als die völlige Erotisierung der Nacktheit eine Bedeutungsreduktion darstellt und ein Umgang mit Nacktheit, wie ihn die FKK propagiert, eine bislang verdrängte Erlebnis- und Bedeutungsspannbreite zu Tage treten läßt. Diese wird jedoch durch eine strikte Enterotisierung wieder eingeschränkt, um jeglichen Verdacht der „Unsittlichkeit“ schon im Vorfeld abzuwehren.“

Beide der o.g. Gruppen reduzieren Nacktheit also gemäß dieses Zitats. Im einen Fall ist Nacktheit provokant / aufreizend in Szene gesetzt, also Nacktheit auf ihre sexuelle Wirkung hin benutzt, im anderen Fall wird sie als so „natürlich“ kommuniziert, daß nun niemand etwas dagegen haben könne, wenn er auf nackte Wanderer treffe (die ‚Enterotisierung‘). Dieses Spannungsfeld um die Nacktheit läßt sich allerorten finden. Zwei Beispiele: die Bloggerin Neniel fühlt sich durch nackte Männer, die sich trotz vorhandenen FKK-Strandes in ihrer Nähe (kein FKK-Strand) demonstrativ nackt aufführen, gestört (Blog gelöscht) Andererseits berichtet der Express über die o.e. FKK-Umfrage unter Einbindung eines Fotos (s. rechts), das eben nicht die Ästethik der Freikörperkultur abzubilden versucht, sondern aufgrund v.a. des Blickwinkels eine deutliche sexuelle Botschaft transportiert. Gleich unter der Meldung findet man den Verweis darauf, wie schön es nackt am Strand (Link Anfang 2020 nicht mehr vorhanden) sein kann – auch das sind im Grunde Bilder wie aus Playboy und Co. – und hier schließt sich der Kreis zum einleitenden Blog-Beitrag.

Umgekehrt findet man unter dem Deckmäntelchen FKK oder Nacktwandern auch suspekte (i.S.v. sexuelle Botschaften transportierende) Beiträge. Ich habe da neulich einen Blogbeitrag gelesen bzw. gesehen, den ich absichtlich nicht verlinke. Ein Mann berichtet über seine Erfahrungen beim Nacktwandern und -baden in einem öffentlich zugänglichen Bereich in der Natur. Er hat eine Kamera aufgestellt, die ihn beim Entkleiden, Herumlaufen, Baden usw. filmt. Meist ist der Protagonist aufgrund des Weitwinkels nur recht klein zu sehen, dann aber geht er plötzlich mit halb erigiertem Penis sehr nah an der Kamera vorbei. Der ganze Film wirkt so linkisch, so „bemüht“. Und den Nahauftritt braucht man nun wirklich nicht. Gerade bei diesem Herrn, in dessen Blog ich ab und an hereinschaue (Nachtrag: mittlerweile auch gelöscht), frage ich mich, ob er noch andere Lebensinhalte neben „Nacktsein“ hat.

Man könnte nun provokant fragen, ob FKK ausstirbt, weil es erklärtermaßen nicht um Sex und Erotik geht, also der Frage nachgehen, ob es am oben erwähnten ‚Kick‘ liegt, der bei der Harmlosigkeit des FKK fehlt. Ich glaube, da ist etwas dran, gerade weil die sexuellen Botschaften in unserer Gesellschaft (Werbung, Medien allgemein …) so dominant sind. Nicht die ästhetische Freude am Nacktsein, ggf. sogar verbunden mit einer lebensreformerischen Grundhaltung, wird gesucht, sondern die erotische Spannung, weil diese es ist, die von unzähligen Werbefotos und Plakatwänden verbreitet wird. Gerade sie ist jedoch aus ganz simplen Gründen nicht unbedingt am FKK-Strand zu finden, denn es ist ja speziell die (eigentlich verhüllende) Kleidung, die Reize durch Verdecken betont. Ist keine Kleidung da, sieht man den ganzen Menschen, wie er ist. Schaut man sich dann jedoch an, was man z.B. im Internet zum Thema Freikörperkultur findet, dann entsteht unwillkürlich der Eindruck, daß es eine Menge Menschen gibt, die (leider) diesen Begriff mit Pornographie verbinden.
(Nebenbei: Heute mag auch die Angst vor dem allgegenwärtigen Smartphone mit guter Kamera und HD-Video-Aufnahme dazu beitragen, daß sich jüngere Menschen nicht mehr gerne am Strand komplett ausziehen.)

(Natürlich mag man auch fragen, ob die hehren (i.S.v. lustfeindlichen) Ziele der historischen Lebensreformer auch mehr als Lippenbekenntnisse waren. Man könnte jetzt in die Biologie abschweifen und darüber sinnieren, ob es grundsätzlich möglich (oder wünschenswert) ist, den nackten Körper ohne jeden Bezug zu Sexualität zu sehen. Aber gerade dieses Thema ist vom Umfang her kaum in einem Blogbeitrag abzuhandeln.) Ich will daher kurz auf eigene Erfahrungen eingehen.

Nacktheit am Strand hat für mich erst einmal etwas mit Natürlichkeit zu tun, mit einem bestimmten Lebensgefühl. Sie unterscheidet sich daher von der Nacktheit z.B. in der Sauna, da diese dort durch äußere Umstände vorgegeben ist. Am FKK-Strand sehe ich daher Menschen nackt, die ganz unterschiedliche Körperformen haben, ohne daß sich mir dabei zwingend ein erotischer Eindruck aufdrängt. Ich habe beispielsweise am Strand in Zingst eine junge Frau nackt gesehen, die ich als gut aussehend wahrnahm. Diese Wahrnehmung beinhaltet eine Mischung aus Ästhetik und Erotik, da ich natürlich auf die biologischen Signale reagiere.
Später sah sich die Frau angezogen und gleich fiel mir auf, wie Push-up-BH und knappe Hose den Eindruck von ihrem Körper veränderten: Hatte ich eben noch „ohne Hintergedanken“ eine schöne nackte Frau gesehen, sah ich nun vor allem Brüste und Po in enger Kleidung.
(Nebenbei scheint es bei der Umfrage zu FKK dann auch etliche Menschen zu geben, die ihren Körper lieber mit Kleidungsstücken auf sexuelle Signale reduzieren, als ihn in seiner Ganzheit und Schönheit beim FKK zu zeigen.)
Umgekehrt will mir der am Beginn dieses Artikels erwähnte Beitrag etwas über das Barfußlaufen vermitteln, ich sehe aber v.a. den zur Schau gestellten Schambereich einer Frau.

FKK bedeutet daher für mich Natürlichkeit – am Strand verändert sich die Wahrnehmung, was vielleicht auch etwas mit dem Einfluß des Meeres, der Weite, dem Freiheitsgedanken zu tun haben mag. Natürlichkeit heißt, daß ich Schönheit als Schönheit wahrnehme und nicht auf sexuelle Signale reduziere, die ich gleichwohl wahrnehme. Die nackte, hübsche Frau am FKK-Strank ist kein Sexobjekt, doch gleichzeitig bin ich mir der erotischen Botschaft bewußt, die mein Körper empfängt.
Dies bestätigen u.a. auch die Forschungen von Prof. Ariel Schoenfeld, (Artikel nicht mehr online, 2.6.2020) der feststellte, daß er schwer ist, einem nackten Menschen immer nur ins Gesicht zu schauen. Letztlich gehe es um den Fortpflanzungstrieb, der sich nicht am Gesicht, sondern an den Geschlechtsorganen festmache

Weder schaue ich verkrampft weg (Enterotisierung), um das Aufkommen solcher Eindrücke zu vermeiden, noch starre ich lüstern auf die Person – und reduziere sie zu eben diesem Sexobjekt (Erotisierung).
Diese Natürlichkeit, die Selbstverständlichkeit, mit Nacktheit und Erotik umzugehen, ist m.E. etwas, das sich an einem FKK-Strand von selbst einstellt. Daher kommt vielleicht der Eindruck der „Reinheit“, „Keuschheit“, den man in den Werken der historischen Lebensreformer findet. Insofern kann man also gerade nicht von Lustfeindlichkeit sprechen, sondern von einer auf natürliche Weise angepaßten Wahrnehmung.
In diesem Sinne ist Freikörperkultur Lebensreform, denn sie entzieht meinen Geist den überall zuhauf zu findenden sexuellen Stimuli und leitet zu einer ganzheitlichen Betrachtung von Nacktheit und Sinnlichkeit über.

Und genau diese natürliche Verbindung von Nacktheit und Erotik finde ich nicht bei den Bildern eines CSD, aber auch nicht in etlichen FKK-Blogs oder sonstigen Beiträgen zum Thema, die krampfhaft Nacktheit ‚ausstellen‘, die zwanghaft wirken, die auf Objekthaftes reduzieren.
Und dahinter steht dann der große Bereich der Pornographie, der mit ‚tags‘ wie FKK / Freikörperkultur / Nudismus eine unselige Verknüpfung heraufbeschwört – und daran verdient.