Navarrete bis Azofra (CF16)

[Die Seite ist Teil des Berichts über meinen Camino Francés 2015.]

Zuerst dachte ich mir nichts groß dabei, als Helga zwischen Logroño (Stadt) und dem Parque Granjera an einer Wurzel mit dem Fuß abgerutscht und umgeknickt war. Sie bat mich abends um etwas Voltaren-Gel. Heute eröffnete sie mir dann, daß der Fuß mehr schmerze, als sie das erwartet habe. Es standen knapp 23 Kilometer an, die Helga aber doch irgendwie meisterte, das heißt wir gingen nicht wesentlich langsamer, weil sie das nicht näher thematisierte.

Los ging es durch nebelverhangene, von gelbem Licht erhellte Straßen Navarretes und hinaus in die Felder der Rioja. Wein, soweit das Auge reichte, dazu wieder ein – ja, ich wiederhole mich – imposanter Sonnenaufgang. In der Ferne lag Nebel im Tal vor den Bergen – Bilder zum Genießen, zum Sattsehen und Krafttanken. Dennoch war es ein wenig windig und recht kühl bis zum Mittag.
Auf dem kleinen Hügel Poyo Roldán erinnerte eine Schutzhütte mit Hinweisschild an den legendären Kampf des fränkischen Ritters Roland mit dem Riesen Ferragut. Hier ist es ein „Riese“, in anderen Versionen der Legende ist es ein Anführer der Mauren. Helga und ich rasteten hier, sie cremte den Fuß noch einmal ein.

Kurz vor dem Ort Nájera kommt man dann an dem Pilgergedicht „Polvo, barro sol y lluvia“ vorbei, das in mehreren Sprachen an eine öde Betonwand eines Industriekomplexes geschrieben ist. Es zählt die Dinge auf, mit denen Pilger auf dem Camino in Berührung kommen, fragt auch, wer oder was den Pilger auf seinen Weg rufe.

Hier die deutsche Version mit meinen Anmerkungen:

 

„Staub, Schlamm, Sonne und Regen, das ist der Weg nach Santiago.
Tausende von Pilgern und mehr als tausend Jahre.

Wer ruft dich? Pilger, welch‘ geheime Macht lockt dich an?
Weder ist es der Sternenhimmel (es müßte das Sternenfeld heißen), 
noch sind es die großen Kathedralen

weder die Tapferkeit Navarras, noch der Rioja-Wein, 
nicht die Meeresfrüchte Galiziens und auch nicht die Felder Kastiliens.

Pilger, wer ruft dich? Welch geheime Macht lockt dich an?
Weder sind es die Leute unterwegs, noch sind es die ländlichen Traditionen

weder Kultur und Gesichte (es muß Geschichte heißen), noch der Hahn Sto. Domingos, 
nicht der Palast von Gaudí und auch nicht das Schloß Ponferradas.

All‘ dies sehe ich im Vorbeigehen und dies zu sehen, ist Genuß,
doch die Stimme, die mich ruft, fühle ich viel tiefer in mir.

Die Kraft, die mich vorantreibt. Die Macht, die mich anlockt,
auch ich kann sie mir nicht erklären. Dies kann nur Er dort oben!“ (E.G.B.)

(Im Original von Eugenio Garibay Baños, Pfarrer aus Nájera)

Nájera, im 11. und 12. Jahrhundert Hauptstadt des Königreiches Navarra, liegt vor imposanten, roten Sandsteinklippen, über denen Geier kreisten, als wir uns näherten. Der Ort selbst hatte wieder diesen leicht heruntergekommenen „touch“ mit viel Schmutz auf den Straßen, vernachlässigten Häusern, mit Brettern zugenagelten Fenstern und unschönen Graffitis an Wänden und Türen. Möglicherweise haben wir beim Hindurchgehen zu wenig gesehen, vielleicht gab es schöne Ecken, uns waren sie nicht vergönnt. Oder anders und genereller: die Kirchen stachen meist hervor mit ihrem Prunk, den Altären und Statuen, aber im No-Name-Ort im Niemandsland waren die Häuser nicht nur nachts grau.

Wir machten keine Pause, sondern stiegen hinter dem Ort bergan, fragten kurz einen Einheimischen nach dem Weg, da Pfeile fehlten und andere Pilger (Wanderer?) offenbar nach rechts abgebogen waren, aber es ging mehr oder weniger geradeaus nach oben, wo vielleicht eine der herrlichsten landschaftlichen „Kulissen“ des Jakobsweges auf uns wartete:

Der rötliche Fels kontrastierte mit dem tiefblauen Himmel und den grünen Kiefern – eine Bilderbuchlandschaft für Urlaubsprospekte. Hinter diesem bewaldeten Hügel (560m) ging es dann in eine weite, intensiv landwirtschaftlich genutzte Ebene. Am Weg lagen Bewässerungskanäle, ich fotografierte viele hochgewachsene Disteln und bestaunte die wolkenverhangenen Berge in der Ferne jenseits der Weinfelder.

Hier in der Rioja stehen alle ein oder zwei Kilometer schmucke, hölzerne Pfosten, die den Camino ausschildern und die Restdistanz bis Santiago angeben – in unserem Fall nun ungefähr 580 Kilometer. Hey, sagten wir, nicht nur die „7 vorne“ ist weg, auch die 6 schon… Die aufgeschraubten Plastikschilder mit dekorativer gelber Muschel auf blauem Grund waren übrigens von fast allen dieser Pfosten gestohlen worden…

Azofra ist so ein Ort, in dem abends um 6 die Bürgersteige hochgeklappt werden, wie man so schön sagt. Die Häuser aus rotem Sandstein waren im Erdgeschoß aus zum Teil sehr großen Blöcken gemauert, während das Obergeschoß aus ebenfalls roten Klinkersteinen errichtet worden war.
Aber dieser Ort wartet mit einer besonderen Pilgerherberge auf, die nur aus kleinen Zwei-Bett-Räumen besteht, die man durch eine Art Saloon-Schwingtür betritt. Ungewohnt, aber nett. Helga und ich teilten uns eins dieser Zimmer, ich duschte dann im Kellergeschoß, wusch meine Sachen, hängte sie in den Hof zum Trocknen und setzte mich gemütlich neben den kleinen Pool mit eiskaltem Wasser – zum Kühlen müder Pilgerfüße.

Im nachhinein fiel mir erst auf, daß Helga sich irgendwie im Hintergrund hielt, mit ihren Sachen lange beschäftigt war und vielleicht meine Gesellschaft etwas mied (oder Zeit zum Nachdenken brauchte). Wir aßen in einem Restaurant als fast einzige, frühe Gäste unser Pilgermenü, spazierten dann noch etwas durch Azofra, aber „los“ war da nichts. Also telefonierte ich mit Zuhause und gab „den Stand“ durch.

Heute merkte ich wieder einmal, daß eine Tagesstrecke zwischen 20 und 25 Kilometern „paßte“, wie ich es schon aus den Trainingswanderungen kannte. Alles über 25 Kilometern sorgte für Muskelkater und Verspannungen am nächsten Tag. Andererseits „ziepten“ die Achillessehnen wieder minimal und aus irgendeinem Grund tat der Rücken im Bereich der Lendenwirbelsäule weh, vermutlich weil ich den Rucksack anders als sonst gepackt hatte. Aber auch wenn ich das explizit im Memo erwähnte, waren das keine wirklichen Probleme… Alles in allem fühlte ich mich gut.

Helga offenbarte mir dann, daß sie morgen eventuell zurückbleiben würde, der Fuß schmerze im Inneren, also nicht im Knöchelbereich, es sei eher schlimmer geworden. Ich spürte, daß sich unser gemeinsames Pilgern zum Ende neigte, aber um ehrlich zu sein, es war auch irgendwie die Luft raus, was negativer klingen mag, als es gemeint ist. Wir wußten, daß es bis Burgos wenige Tage sein würden, das war das besprochene Endziel unserer gemeinsamen Zeit, auch wenn Helga noch locker vier Tage darüber hinaus in Spanien bleiben konnte, weil wir schneller unterwegs waren, als sie es wohl geplant hatte. Wir hatten uns kennengelernt, das Wesen und die Eigenheiten des Anderen, und ich glaube, wir spürten beide, daß es doch eher eine Zweckgemeinschaft war – bei aller durchaus vorhandenen Sympathie!
200 Kilometer lagen hinter uns, 8 Tage gemeinsam – ungefähr ein Viertel meiner gesamten Pilgerschaft.

Ich überlegte, wie ich weiter vorgehen sollte. Kurz kam der Gedanke auf, in Burgos einen Ruhetag in einer „habitación individual“, einem Einzelzimmer in einer Pension oder einem einfachen Hotel, zu machen, die Füße hochzulegen und ein Fläschchen Rioja-Rotwein zu genießen. Aber als Pilger denkt man meist nur noch über heute und allenfalls morgen nach – Burgos lag 90 Kilometer vor mir.
Und zum ersten Mal spürte ich heute so etwas wie einen Anflug von Heimweh. Es war Freitag, der 8. Tag meiner Pilgerschaft, und weitere vier Wochen lagen nun vor mir. Vier Wochen – welch eine „unvorstellbar“ lange Zeit für jemanden, der als Selbständiger sowieso schon kaum geregelte Urlaubszeiten hat. Ich dachte nach dem Telefonat an zu Hause, wie der Alltag meiner Frau und der Kinder weiterlief, während ich hier durch ein spätsommerliches, warmes Nordwestspanien marschierte. Doch das Heimweh verflog ganz schnell wieder und wich freudiger Erwartung der kommenden Wochen. Immer weiter, ultreia!

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