O Pedrouzu bis Santiago de Compostela (CF42)

[Die Seite ist Teil des Berichts über meinen Camino Francés 2015.]

Am nächsten Morgen, Mittwoch, als ich aufstehen wollte, war es stockdunkel im Zimmer und im Haus: die Sicherung war herausgesprungen. Ich packte im Schein meiner Stirnlampe zusammen und merkte, als ich mir zum letzten Mal meine Trekkingstiefel anzog und schnürte, daß mir ein dicker Kloß im Hals steckte. „Was wird das für ein Tag?“, sprach ich sehr bewegt aufs Memo.

Bennett (2013): „The walk was almost over (…) this whole episode in my life would come to an end. It wasn’t just four or five weeks of walking that would end, it was more than two years of anticipation and planning and dreaming that would no longer occupy my life.“ 

Am Tresen im kleinen Frühstücksraum nahmen wir ein kurzes Frühstück ein, dann ging es schnellen Schrittes nach Santiago. 20 Kilometer waren es – wir würden in der Mittagszeit ankommen. Ich dachte während des Gehens darüber nach, ob Shelley wirklich in dem Tempo ihren ganzen Camino hinter sich gebracht hatte. Sie ist so schnell, daß man sie Dinge am Wegesrand nicht mehr sieht. Mal innehalten, einfach nur schauen, das konnte sie nicht. Ich wiederhole mich: Ich könnte nicht mit ihr längere Zeit gemeinsam pilgern, aber hier war es für mich OK. Wer wegen der kurzen Autofahrt von gestern denkt, daß ich nun doch eine Strecke „übersprungen“ hätte, der irrt. Der Camino führt quasi an O Pedrouzu vorbei; heute mußten wir zu Fuß zurück, das heißt wir liefen eher noch 2-3 Kilometer mehr. Die Sonne stieg orange über dem Dunst in den Wiesen hoch: alle Pilger blieben stehen und fotografierten (außer Shelley – was mich an den blöden Spruch erinnert: alle Kinder gehen auf den Friedhof, nur nicht Hagen, der wird getragen).

Bald kamen wir am Flughafen Lavacolla (dem 10 Kilometer außerhalb liegenden Flughafen von Santiago) vorbei. Wieder waren in den Zaun etliche Kreuze und Stoffetzen gebunden. Es ging durch eine lange Unterführung und dort sah ich den dritten und letzten Spruch, der mich auf dem Camino zum Nachdenken anregte: Du musst dein Ändern leben. Genau das tat ich hier auf dem Camino. Ich hatte es ja schon ganz zu Anfang geschrieben: ich bin nach einigen religiösen Irrwegen (oder sagen wir: Abstechern) wieder auf das Christentum zurückgegangen. Ich habe dieses Ändern tatsächlich gelebt, bin aus dem naturreligiösen Verein, dem ich lange Jahre angehörte, ausgetreten, habe die Kontakte abgebrochen, ja, selbst meine umfangreiche religionswissenschaftliche Bibliothek zum Thema Germanischer Mythologie, Heidentum und Naturreligion hatte ich verschenkt. Ich hatte es ernstgemeint mit diesem Ändern und wollte prüfen, ob mir der Jakobsweg eine Art Bestätigung dafür geben würde. Diesen Gedanken nehme ich später noch einmal auf.

Auf langer, gerader Straße ging es in Richtung Monte del Gozo und Fernsehstation vom staatlichen Rundfunk RTVE. Janssen (2014) war erschreckt über die Pilgermassen vor Santiago und konstatierte:

„Dies ist nicht mehr mein Jakobsweg. Mein Jakobsweg, das ist mein wunderschöner, einsamer Camino Aragonés, das ist die morgendliche Stille, das ist der Mond, der über den Weizenfeldern der Meseta untergeht, und die Sonne, die in meinem Rücken aufgeht. Mein Jakobsweg, das ist die Via Traiana, auf der sechs Pilger einander abwechselnd überholen, das ist die Freude über jedes Wiedersehen, das ist die Herzlichkeit der Hospitaleros in Arrés, in Cirauqui, in Rabanal. Das hier, das ist kein Camino, sondern eine Pilgerautobahn…“
Das ist nicht ganz von der Hand zu weisen, obwohl es für uns „ruhig“ war, s. Foto links. Wenn ich mal 20 oder 30 Pilger auf einmal zählen konnte, dann waren das schon viele. (Im Juli 2017 jedoch sah diese Straße ganz anders aus: da waren wirklich Hunderte auf einmal unterwegs.)

Vorbei an mächtigen Palmen wanderten wir bis zum nicht sonderlich schönen Denkmal auf dem „Berg der Freude“, von wo man die Stadt Santiago das erste Mal (im Dunst) liegen sehen konnte. Ich schob es auf den Dunst, daß ich die Türme der Kathedrale nicht sah, aber es war so, daß man dafür deutlich vom Weg abgehen muß (in Gehrichtung nach links hinunter zu zwei großen Pilger-Bronzestatuen), und erst von dort sieht man dann die Türme wirklich. Aber Zeit zum Schauen war nicht „drin“, denn Shelley hatte es heute gefühlt noch eiliger. Soll es halt so sein, dachte ich mir und begann mit ihr den Abstieg hinunter in die Stadt. Dieser bzw. der gesamte Weg bis hin zur Praza da Obradoiro, dem Platz im Westen vor der Kathedrale, wo sich all die ankommenden Pilger sammeln, zieht sich noch, aber es gab viel zu sehen.

Am Stadteingang war ein großer Kreisel, wo vor einem Monument recht moderner Kunstauffassung die Buchstaben SANTIAGO de COMPOSTELA an einem Gitter zu sehen waren. Spontan dachte ich an Roncesvalles zurück, an das vielfotografierte Schild: Santiago de Compostela 790 Kilometer. Jetzt waren es Null Kilometer – ich war da. Wir passierten so etwas wie einen äußeren Straßenring, dann einen inneren, hinter dem es hoch in die Altstadt ging (Porta do Camiño). Die Türme der Kathedrale hatte ich schon ein erstes Mal gesehen und fotografiert. Jetzt passierten wir das Nordportal, dann die Unterführung, in der ein Dudelsackspieler die ankommenden Pilger unterhielt (das Instrument heißt hier Gaita) – und schon standen wir auf der Praza da Obradoiro vor der hochaufragenden Kathedrale von Santiago de Compostela. Angekommen. Heimgefunden?

Das Ankommen war prosaisch oder „semi-emotional“, wie ich später meinem Memo anvertraute. Ich fand es sehr schade, daß Shelley mit so einem Tempo vor mir hergerannt war. Es war kein gemeinsames Ankommen, kein sich Zulächeln, keine Worte wie „schau mal, nur noch die Unterführung“. Sie wollte es sich oder wem auch immer beweisen, daß sie das kann. Ich mußte nichts beweisen. Da standen wir nun auf dem nur mäßig vollen Platz, gingen zum zentral in den Boden eingelassenen Stein, der nicht der „Nullstein“ ist, wie man immer wieder lesen kann, sondern sich auf den Umstand bezieht, daß der Camino seit 1987 europäisches Kulturerbe ist. Vor uns ragte die Kathedrale auf mit ihrem Südturm in „blau“, weil er eingerüstet und mit Schutznetzen umgeben war. Wir umarmten uns, lachten uns an und versicherten uns noch einmal: „We did it.“ Natürlich wurden unsere Augen feucht, aber es war doch anders, jetzt da wir da waren. Jetzt war etwas zu Ende gegangen, das in dieser Form für mich einmalig gewesen war – und bis heute gewesen ist, auch wenn ich ein zweites Mal 2017 so in Santiago angekommen bin. So standen wir einfach wenig auf dem Platz herum, schauten anderen „beim Ankommen“ zu – und wurden von älteren Frauen angesprochen, ob wir ein Zimmer bräuchten…

Gegenseitige Hilfe noch am Ende des Weges

Es war kurz nach 12 Uhr, so daß wir eine große Menschenmenge beim Mittagsgottesdienst in der Kathedrale vermuteten – für uns jetzt die Chance, so dachten wir, schnell und ohne lange Warteschlange an unsere Compostelas zu kommen. Und siehe da, in der Rúa do Vilar, wo sich damals noch direkt südlich der Kathedrale das Pilgerbüro befand, standen vielleicht 30 Leute in der Warteschlange im Innenhof des Büros. Wir reihten uns ein, sprachen mit dem einen oder anderen kurz ein paar Worte, wenn man sich wiedererkannte.

Ich traf hier Niki wieder, der mit seiner Mitpilgerin Alice bei Viana meinen Weg gekreuzt hatte. Er berichtete, daß Alice frühzeitig  und genervt abgereist war. Er selbst hatte mit einer Magen-Darm-Erkrankung kurz nach Viana für ein paar Tage pausieren müssen, sei nun aber doch angekommen. Wir mußten ungefähr 45 Minuten warten, dann wurde jeder mit Gong und Anzeige der Schalternummer zum Eintreten aufgefordert.
Ein kleines Formular mußte mit persönlichen Daten ausgefüllt werden wie Name, Herkunft, Alter, Beruf, Geschlecht – und eben auch, warum man pilgerte. Dazu hatte ich vorher viele Diskussionen gelesen, weil es anscheinend drei verschiedene Versionen der Compostela gab, bzw. zwei Compostela-Versionen und eine Urkunde, die nur bescheinigte, daß man zu Fuß nach Santiago gekommen sei, quasi die nicht-religiöse Variante. Ich war verunsichert, was ich ankreuzen sollte, gab es doch „religiös“ und „spirituell“, soweit ich mich erinnere, als getrennte Optionen und eben „touristisch“. Ich kreuzte „spirituell“ an, wie es alle vor mir in der Liste getan hatten. Dafür erhielt ich meine Compostela, also die offizielle Urkunde, die besagt, daß ich „pietatis causa, devote visitasse“, also aus Frömmigkeit ehrerbietig das Apostelgrab besucht habe. Dabei wurde mein Vorname Volker latinisiert: Fulcherum…
Für Shelley gab es so eine Form leider nicht. Ich glaube, es gab nur diese eine Compostela – und es war möglicherweise egal, ob man „religiös“ oder „spirituell“ ankreuzte. Zusätzlich erbat ich das Streckenzertifikat (3€ extra), in dem mir eine Wegstrecke von 775 Kilometern bescheinigt wurde. Das ist möglicherweise (ab St.-Jean-Pied-de-Port) ein wenig zu kurz, aber man will ja mit dem Pilgerbüro nicht streiten. Compostela und Zertifikat wanderten in eine schicke weinrote Papprolle (2€ extra).

Im Anschluß begleitete ich Shelley zu ihrem Hotel am Rande der Altstadt, wo sie ihre Sachen abstellte, aber noch nicht einchecken konnte. Wir gingen zur Praza de Cervantes, um nun in aller Ruhe im Café Agarimo einen Rotwein miteinander zu trinken, ein Sandwich zu essen und den bisherigen Tag „sacken“ zu lassen. Wir waren die einzigen Gäste, es lief sehr getragene Musik, so daß wir uns in Ruhe unterhalten konnten. Jetzt war auch Shelley ruhig, ausgeglichen und wir sprachen darüber, wie sich dieser Tag für uns angefühlt hatte.

Allein ging ich dann zurück zu meiner Pension Hortas in der Rúa das Hortas. Unterwegs telefonierte ich mit meiner Frau, die sehr angespannt war und mir signalisierte, daß es Zeit würde, daß ich wieder beruflich, dann auch für die Kinder und für sie da wäre. Ich hatte den Eindruck, daß die Zeit hier in Spanien irgendwie „überdehnt“ war, daß ich jetzt bald wieder zu Hause sein sollte. Über das Telefonat habe ich mich ein wenig verlaufen, mußte mein Handy mit Google Maps konsultieren und staunte über die Angabe „800m“. Ok, noch ein knapper Kilometer zur Pension war bei der Gesamtstrecke nun überhaupt kein Problem.

Ich checkte bei Hortas ein und wurde in ein wunderschönes kleines Zimmer geführt, das fast schon etwas von einer Mönchszelle hatte. Es war langgezogen, hinter dem Bett stand ein kleiner Schreibtisch mit einem einfachen Holzstuhl. Das Zimmer wurde durch ein sauberes, modernes Bad abgerundet. Hier stellte ich meine Trekkingstiefel, so staubig, wie sie waren, in eine Ecke und zog sie erst wieder am Samstag vor der Fahrt zum Flughafen an. Mehrere Male schaute ich in den nächsten Tagen wehmütig auf die Schuhe: sie hatten mich so lange getragen, jetzt hatten sie keine Aufgabe mehr. Ich ging duschen, weil schon für 18 Uhr ein Treffen mit den anderen angesagt war. Wäsche, die ich noch brauchte, gab ich zum Waschen, den Rest packte ich in einen wasser- und luftdichten Packsack.

Zum Treffen auf der Praza das Praterías (der Platz mit dem Pferdebrunnen) kamen Shelley, Peter, Geoffrey und Ursula, Francesca, Daphne und Keith aus Neuseeland, mit denen Peter viel zu tun gehabt hatte, und zwei weitere Personen, die ich nicht kannte. Wir gingen gleich um die Ecke ins Café Quintana (an der Praza de Quintana de Mortos, dem Ostplatz), kauften Flaschen Rotwein, ein paar Empanadas (Pasteten) und setzten uns gemeinsam an einen großen Tisch. Es wurde miteinander angestoßen und gelacht, gegenseitig gratuliert und natürlich auch über den Camino geredet, der uns alle hier zusammengeführt hatte. Zu unserer Überraschung kam später noch Peters Pilgerfreund Hartmut hinzu, der von seiner Frau begleitet wurde. Diese war, soweit ich mich erinnere, in ihrem eigenen Tempo gepilgert; man hatte wohl einfach vereinbart, sich in Santiago zu treffen. Auch Francesca war am nächsten Tag in Begleitung ihres Mannes unterwegs, der wohl aus den USA eingeflogen war. Der Rotwein schmeckte einigermaßen, doch selbst bei 15€ pro Flasche war uns das egal: heute wurde gefeiert. Bald kam der Wunsch auf, gemeinsam essen zu gehen. Wir hatten die Empfehlung Casa Manolo an der Praza de Cervantes bekommen, wo wir hingingen. Wie fast schon zu erwarten, war kein Tisch für 12 Personen frei. Wir sollten warten, aber Hartmut und ein paar andere gingen weg, so daß sich die Gruppe leider aufteilte. Der Rest, Daphne, Keith, Shelley, Peter, Geoffrey und Ursula sowie ich, aß sehr lecker im vollbesetzten Restaurant.

Gegen 22 Uhr trennten wir uns; ich ging mit Francesca zur Praza da Obradoiro zurück, wo in den Arkaden der Kommunalverwaltung eine traditionelle Musikgruppe spielte. Und da stand auch Luis aus Mexico bei den Zuhörern, der mir in Sahagún den Tip mit dem „midway certificate“ gegeben hatte. Auch hier fand ich ihn nett im Gespräch, aber doch auch kühl und reserviert. Wir sagten uns gegenseitig „Hey, so we did it“ und hörten weiter der Musik zu. Nebenbei erfuhr ich von Luis, daß er nun erst einmal eine Woche Urlaub (!) in Marokko machen werde. Das sagte er auf meine Aussage hin, daß bei mir am Montag die „Hölle losbrechen“ werde. Vom Habitus her würde ich Luis als eher betucht einschätzen. Möglicherweise muß er so profanen Dingen wie Arbeit für Geld nicht nachgehen…

In meinem Zimmer sprach ich dann ein sehr langes Memo dieses letzten Tages meiner (tatsächlichen) Pilgerschaft auf. Der Tenor war: Es ist vorbei – ich sitze in meinem Zimmer, bin allein und spüre auch diese Einsamkeit. Ich merkte aber auch, wie das Flair des Caminos so langsam abfiel. Hat man das alles zu sehr idealisiert? Was verbindet mich wirklich mit einer Shelley aus Neuseeland, wenn sie wieder dort ist und ich in Deutschland bin? Möglicherweise wird man noch ein paar nette Mails schreiben, aber – ich bin da rational – dann ist es wohl vorbei. Aber, so mußte ich auch feststellen: ich durfte hier Gemeinschaft erfahren, in die jeder aufgenommen wurde, der willens war. Jeder ist dabei und keiner mußte sich irgendwie erklären. Man wurde so genommen, wie man sich gab. Niemand fragte: wer bist du und wofür stehst du? Kaum einer, so fiel mir nun auf, weiß wirklich, wie ich bin und was in mir vorgeht. Wenn ich aber nett bin, hilfreich, die Menschen anlächle, dann werde ich akzeptiert – weil ich dann das tue, was der Mensch tun muß… Im schon erwähnten Daudedsching (Schwarz 1988) findet sich im Vers 47 eine interessante Aussage: „nicht aus dem hause gehen doch alles wissen
nicht aus dem fenster blicken und doch das Dau des himmels sehen
je weiter hinaus man geht desto weniger weiß man“

Ich war für meine Verhältnisse sehr weit hinausgezogen, hatte in der Rioja für mich Einsichten und Klarheit gewonnen, hatte meine Lektionen in der Meseta gelernt, nur um in Galizien versucht zu werden und dieser Versuchung zum Teil zu erliegen.

So stand natürlich jetzt am Ende des Caminos die Frage an: was hat er dir gebracht? Doch ich war mir sicher: das würde ich nicht hier in Santiago beantworten können. Hier war alles in bittersüße Abschiedsmelancholie getaucht. 
Ich dachte zurück an Claras Aussage, daß ich die Veränderungen erst dann spüren werde, wenn ich wieder zu Hause sein würde. Ja, so war es auch, das kann ich bestätigen. Die Erlebnisse auf dem Camino haben mich verändert, haben mich auf Menschen zugehen lassen, brachten mich zu für mich recht außergewöhnlichem sozialen Engagement in der Heimat.  

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