[Die Seite ist Teil des Berichts über meinen Camino Francés 2015.]
Einer der schönsten Momente des Tages ist der, wenn man morgens den Rucksack auf den Rücken schwingt, im Wissen darum, alle seine Habe nun auf dem Rücken zu tragen; sich wie jeden Tag nach Westen wendet und einfach nur loslaufen kann. Das ist im übrigen auch das, was mir nach der Heimkehr am meisten gefehlt hat, das Aufbrechen und das monotone Gehen, jeden Morgen von neuem. Stattdessen saß ich wieder im Büro.
Wir waren heute wieder früh dran, auch wenn das Frühstück in der Herberge ein gewisses Flair hatte: wir saßen mit den anderen Pilgern in einem großen Raum mit antiken Möbeln und Kaminfeuer in so einer Art spanischem Landhaus-Stil. Ein Kilometerstein auf dem Weg aus Obanos heraus zeigte 665 Kilometer als Distanz bis nach Santiago. Die Sonne ging hinter uns auf, während wir kurz einer Landstraße folgten.
Schon nach ungefähr zwei Kilometern kamen wir in Puente la Reina an, einem kleinen Städtchen, das für seine schöne Brücke aus dem 11. Jahrhundert bekannt ist. Am Ortseingang steht die etwas düster wirkende Statue eines mittelalterlichen Pilgers aus Anlaß des Zusammentreffens der beiden Wege über Somportpaß (aragonesischer Weg) und Ibañeta-Paß (Camino Francés) mit dem Spruch, daß von hier an alle Wege nur ein Weg seien.
Raimund Joos (Joos 2017) weist darauf hin, daß in Städtchen, die sich seit dem Mittelalter wenig verändert hätten, die Hauptstraße immer noch mit der alten Pilgerstraße, der sirga peregrinal identisch sei, was man in Puente la Reina gut sehen könne.
Kurz schauten wir in die Santiago-Kirche rein (leider nur minimal beleuchtet), fotografierten besagte Brücke – und schon waren wir unterwegs auf breitem Kiesweg in Richtung Estella.
Da meine Wäsche über Nacht nicht getrocknet war, hing ich sie einfach hinten an den Rucksack. Ein „wandelnder Wäschetrockner“ ist keineswegs ein ungewöhnliches Bild auf dem Jakobsweg. Mit uns ging über etliche Kilometer eine offenbar einheimische Frau in eher schicker Kleidung und mit einer Tragetasche in der Hand.
Der Weg hatte einige knackige Steigungen, bis wir das malerische Örtchen Mañeru erreichten. Das Wetter war warm, aber es war permanent recht windig. Und der Wind trieb die Wolken über den Himmel, was für herrliche Licht- und Schattenspiele sorgte. Der nächste Ort, Cirauqui, lag plötzlich hell erstrahlt vor uns, während wir im Schatten pilgerten.
Cirauqui möchte ich auf jeden Fall irgendwann noch einmal besuchen. Der Camino führt mitten durch den malerischen, mittelalterlich wirkenden Ort, wozu man auf der einen Seite den Hügel emporsteigt, durch enge Gassen bis zum Rathausplatz, weiter durch einen tunnelartigen Durchgang, dann auf der anderen Seite wieder hinuntergeht. Man feierte das Fest Día de la Cruz (Tag des Kreuzes), eine Musikkapelle zog bereits wieder durch den Ort, während mit starkem Wasserstrahl noch die Reste der vorherigen Nacht beseitigt wurden. Als Pilger ist man da eher Zuschauer im Sinne des Gegensatzes von ortsbezogenem Fest und vorbeieilender Pilgermenge. Mir fällt auf, daß ich das Wort „vorbei“ hier oft in den Beschreibungen nutze, aber es gibt ja auch den Charakter der Pilgerschaft wieder: nie verweilt man lange an einem Ort, ja, in den Herbergen darf man nur eine Nacht bleiben, es sei denn, man wäre krank. Es geht immer weiter, Landschaft, Orte, Menschen ziehen vorbei. Der Pilger ist ein Fremder. Und wenn die Bewohner von Cirauqui am Nachmittag wieder feierten, würde ich schon in Estella sein.
Von erhöhtem Punkt aus kann man beim Verlassen des Ortes erkennen, daß niedrige Büsche so in einen Hang gepflanzt waren, daß sie eine Weltkarte ergaben. Was zunächst in der imposanten Breite von ca. 50 Metern beeindruckend aussieht, bekommt dann einen schalen Beigeschmack, wenn man realisiert, daß jeder Busch in einem Autoreifen steckt…
Weiter ging es über eine alte Römerstraße mit entsprechenden, durchaus imposanten Brücken- und Mauerresten und durch eine Landschaft, die mit Wein, Zypressen und Olivenhainen das Gefühl von Süden / Urlaub / Erholung hervorrief. Doch so langsam begann sich der Tag – auch durch die Wärme – etwas zu ziehen. Wir hatten 25 Kilometer bis Estella vor uns, irgendwann spürte ich, daß sich am linken großen Zeh etwas ungewöhnlich anfühlte. Die Erfahrung, daß die Füße sich warm (gelegentlich feucht) anfühlten, hatte ich schon in den letzten Tagen gemacht, aber das kam schlichtweg von den langen Zeiten, die die Füße in den schweren Schuhen steckten. Jetzt meinte ich zu spüren, daß sich eine Blase entwickelte, also Schuh und Socken aus und nachgeschaut – nichts. Trotzdem habe ich den Zeh mit Tape umwickelt. Das ist im übrigen eine der wichtigsten Regeln beim Pilgern: sobald man etwas Auffälliges verspürt, muß man anhalten, also nicht noch mal eben ein paar Kilometer weiterlaufen. Passiert ist an diesem Tag nichts – und an keinem der folgenden. De facto war dies das einzige Mal, daß das Tape zum Einsatz kam.
Heute machte ich viele Landschaftsfotos, weil der blaue Himmel mit den weißen Wolken so schön mit dem Beige der brachliegenden Äcker und dem dunklen Grün der Vegetation kontrastierte. Wir passierten die Ermita San Miguel Arcángel aus dem 10. Jahrhundert, früher Pilgerhospiz, heute ein leerer Kirchenbau mit vielen Devotionalien auf dem Altar und laut Brierley (2015) Ort frühester christlicher Ikonographie in Navarra, die sich heute im Museum in Pamplona befinden soll.
Als ich zum Eingang kam, bemerkte ich, daß ein anderer Pilger ganz allein in der Kirchenruine sang, aber er signalisierte mir, daß ich ihn nicht störte. Ich sah mir die beiden Altäre an, einen Steinquader und einen eher modernen, die über und über mit Devotionalien bedeckt waren: von Olivenzweigen über getrocknete Blumen zu Fotos, Briefen, bunten Bändern und handschriftlichen Zetteln. „Sam, I walk for you.“
Die letzten ungefähr drei Kilometer war ich ziemlich erschöpft, vielleicht kündigte sich schon der morgige Tag mit seinen Schmerzen an; im Rückblick könnte das die Ursache dafür gewesen sein, daß ich mich eher nach Estella schleppte als unbeschwert pilgerte.
Helga und ich beschlossen, zuerst in der kirchlichen Herberge San Miguel zu schauen, das ist eine sogenannte Donativo-Herberge, d.h. man spendet soviel Geld, wie man meint, für die Nacht geben zu wollen. Das ist keine Pflicht, man könnte auch ohne zu zahlen wieder gehen, so daß sich insbesondere jugendliche, oder nicht ganz so „liquide“ Pilger diese Herbergen aussuchen, was diesen Übernachtungsstellen, wie ich später auch in Grañon feststellen konnte, ein hippie-eskes Ambiente gab – dazu später mehr.
Unsere Herberge hatte einen aufs Engste mit Betten zugestellten Schlafraum mit so wenig persönlichem Platz, wie ich es nie wieder erlebt habe. Die Betten waren mit Plastik überzogen, auch das Kopfkissen, was komisch roch und sich auch nicht wirklich prickelnd anfühlte. Als eine ganze „Horde“ junger Spanier eintrudelte, wußte ich bereits, das würde eine höllische Nacht werden – ich sollte mich nicht geirrt haben…
Dafür war die Dusche super mit dickem Wasserstrahl und erfrischte richtig nach diesem langen Tag. Die Herberge befand sich im Erdgeschoß eines normalen Mietshauses, so daß die Dusche in einem normalen, kleinen Badezimmer war. Wir machten Pause, luden die Handys, planten den kommenden Tag.
Ein paar Worte zu diesen Planungen: ich hatte als gedruckten Führer „den Brierley“ (Brierley 2015) mit, den ich allen anderen, insbesondere den beiden bekanntesten, deutschen Führern vorzog, dazu noch einen Ausdruck mit allen Orten und Distanzangaben von der sehr hilfreichen Seite „Planificador“. Grundsätzlich wird mittlerweile in den Diskussionsforen immer geraten, nicht die Standardetappen zu laufen, die die üblichen Reiseführer angeben, da sich in den Zielorten dann die Pilger häufen und Betten knapp werden können. Ich setzte mich also jeden Tag hin, verglich die Distanzangaben des Planificadors mit den Herbergsbeschreibungen von Brierley und überlegte, wie weit ich gehen wollte. Estella – Los Arcos ist so eine Standardetappe, die z.B. Brierley angibt, weswegen am folgenden Tag auch recht viel in Los Arcos los war. In diesen ersten ein bis zwei Wochen meiner Pilgerschaft war das Reservieren von Unterkünften interessanterweise noch kein Thema (trotz vieler Pilger), was sich aber ändern sollte.
Wir streiften dann durch Estella, das uns den Eindruck gab, daß vom Glanz alter Zeiten (Palast der Könige Navarras usw.) wenig übriggeblieben war. Hier spürte ich zum ersten Mal deutlich den Unterschied zwischen den herausgeputzten baskischen „Hochburgen“ in den Pyrenäen und dem hier in der Region endenden baskischen Sprachgebiet. Der Ort wirkte ein wenig „in die Jahre gekommen“. Neben dem Palacio sahen wir uns die höher gelegene Iglesia de San Pedro de la Rúa mit einer schönen Jakobusstatue an, gingen dann zum Zentralplatz mit der Kirche San Juan Bautista (Johannes der Täufer), um dort in einem Restaurant unser Pilgermenü zu essen.
Wieder war ich erfreut darüber, daß ich mit dem Kellner ein paar Worte auf spanisch wechseln konnte. Als er die Rechnung brachte, fiel mir auf, daß das Bier nicht berechnet war. Ich sagte, das Bier sei nicht auf der Rechnung, doch er erwiderte, kein Problem, das sei auch im Menü mit drin… Nett, immer wieder als Pilger das Gefühl zu erhalten, willkommen zu sein. So saß eine alte Frau kurz vor Estella strickend an der Straße und rief uns fröhlich ein „Buen Camino“ zu. Allerdings habe ich auch – selten! – die Kehrseite erlebt.
Zur Nacht schreibe ich lieber nichts… Oder in Kürze: lärmend in die Herberge kommende spanische Mitpilger, Schnarchen, knarzende Betten, Plastikgeruch des Bettes, stickige Luft…
Zum Schnarchen: ich schnarche ja selbst auch, was mir John schon nach der ersten Nacht in Orisson mitgeteilt hatte. Da ich selbst unter noch heftigeren Schnarchern litt, war ich immer bemüht, eine Schlafhaltung zu finden, in der ich nicht oder nur wenig schnarche. Ich hoffe, daß das einigermaßen funktioniert hat, zumindest hat mich niemand böse angemacht oder mich gemieden oder was auch immer. Zwar habe ich immer mal wieder von mir etwas vertrauteren Pilgern erfahren, daß ich geschnarcht hatte, aber ich hoffe, daß das nicht die Regel war. Viele Pilger haben Ohrstöpsel dabei, um den „nachtaktiven“ Mitpilgern nicht zuhören zu müssen…
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Ein Gedanke zu „Obanos bis Estella (CF12)“
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