[Die Seite ist Teil des Berichts über meinen Camino Francés 2015.]
Als ich in der Nacht bei erneut sehr unruhigem Schlaf im mit sechs Personen voll belegten kleinen Zimmer wach wurde, regnete es stark. Am Morgen ging es um 8 Uhr nach einem knappen französischen Frühstück bei dichtem Nebel los, aber zum Glück lange Zeit auf der Fahrstraße, wo man sich nicht „verlaufen“ konnte.
Gegenüber dem gestrigen steilen Aufstieg konnte ich deutlich spüren, daß es nur noch mäßig steil, dafür langgezogen bergan ging. Zu Anfang nutzten die Pilger Stirnlampen, doch langsam dämmerte es, wobei der Nebel so dicht war, daß man zum Teil nur wenige Meter schauen konnte. Es wurde wenig gesprochen, man hörte das Klackern der Stöcke – und es fühlte sich für mich in diesem Nebel so an, als würde eine verschworene Gruppe zu einer großen Tat aufbrechen.
Hier hat natürlich jeder deutschsprachige Pilger, der auch Kerkeling-Leser ist, dessen Fehler im Kopf: er verpaßte die Abzweigung nach rechts auf eine Wiese und verlief sich. Mehrfach warteten andere Pilger an kleinen Steinhaufen oder einem Wegkreuz und besprachen sich mit den Nachkommenden, ob das wohl schon die richtige Abzweigung sei…
Durch die fehlende Fernsicht war das Gehen etwas eintönig: hier und da Schafe oder Pferde auf der Weide, Stille bis auf die besagten Stöcke, aber dies gab mir auch innere Ruhe, die ich über die kommenden Wochen immer wieder im Rhythmus der Schritte finden sollte. Irgendwann stand am Straßenrand ein Kleintransporter, aus dem Kaffee, Baguette und Obst verkauft wurden – mit dem besonderen Hinweis, dies sei der letzte Stempel, den man auf französischer Seite bekommen könne.
(Der Pilger führt einen Ausweis mit sich, hier mehr Info dazu.)
In der Nähe des Pic d’Orisson begann sich der Nebel zu lichten – und siehe da, die Abzweigung war gut markiert und konnte kaum verpaßt werden. Highlight war für mich hier ein Gänsegeier, der auf dem Boden saß und mich ca. 20m an sich herankommen ließ. Andererseits lernte ich gleich hier am Anfang meiner Pilgerschaft, daß man nicht alles sehen kann, was man sich so vorgenommen hatte. An der schönen Marienstatue Vierge d’Orisson lief ich durch den Nebel einfach vorbei, ohne sie zu finden, was ich sehr schade fand.
Der weitere Pfad zum Col de Bentarte wurde atemberaubend schön: der Nebel gab blauen Himmel frei, die kahlen Berge kontrastierten mit den kleinen, dichten Buchenwäldern. Vorbei ging es an einem Kilometerstein, der 765 Kilometer bis Santiago angab. Es gibt ein Foto von mir neben diesem Stein und ich weiß – und wundere mich heute immer noch gelegentlich -, daß ich da gar nichts Besonderes fühlte, also keine Angst vor der langen Strecke, keine Befürchtung, daß ich versagen könnte. Ich nahm es, wie der Engländer sagen würde, matter-of-factly. Es war klar, daß diese Distanz zu bewerkstelligen war, mehr nicht. Was mir auf diesen Bildern aber immer wieder auffällt, ist dieser deutliche Bauchansatz, der über die nächsten fünf Wochen verschwinden würde… 🙂
Bald kam der Rolandsbrunnen in Sicht, der nur tröpfelte, dann der Grenzstein zur spanischen Provinz Navarra. Auch den ersten Gedenkstein für einen Verstorbenen findet man hier – von so vielen, die entlang des Caminos errichtet wurden. Hier gedenkt man Antonio Jorge Ferreira, der offenbar 1994 auf dem Camino war, dann aber 2002 im Alter von 49 Jahren verstorben ist – nur ein Jahr älter als yours-truly.
Am Col de Lepoeder, von wo man die Dächer der Abtei Roncesvalles schon sehen kann, zog sich der Himmel wieder zu. Ich hatte zwischenzeitlich eine Begleiterin gefunden, Helga aus Norddeutschland, die ein ähnliches Tempo wie ich ging, so daß wir jenseits des ersten kurzen Wortwechsels zusammengeblieben waren. Das würde für mich noch Anlaß für viele Überlegungen und innere „Kämpfe“ in den folgenden zwei Wochen geben: Sollte ich „Gemeinschaft abweisen“ und mein spirituelles Ego-Ding fahren? Oder die so zufällig gefundene Gemeinschaft als Bereicherung ansehen? Dazu bald mehr. Fakt ist, daß ich am Abend beim Aufsprechen des Audio-Memos den Tag als „nicht spirituellen“ bezeichnete, weil Helga und ich eben so viel „geschwätzt“ hatten. Auch da muß ich aus heutiger Sicht schmunzeln: Was hatte ich denn vor?! Sechs Wochen lang Stunde um Stunde betend und Taizé-Lieder singend durch Spanien zu stapfen?
An diesem Punkt kann man sich entscheiden, ob man die Fahrstraße wählt oder einen recht steilen, steinübersäten Weg, vor dem (gerade bei Nässe) immer wieder gewarnt wird. Da sich so langsam „Nässe von oben“ zusammenbraute, wählten wir den kurzen, steinigen Weg, der sich letztlich als – nun, ja – steiler Bergweg herausstellte, der bei langsamem Gehen mit Stöcken keine wirklich große Hürde darstellt. Die Vegetation wechselte wieder von alpin zu montan, wir wanderten durch grüne Laubwälder bis bald (nach einer gesamten Wegstrecke von 18 Kilometern) die Häuser der Abtei vor uns auftauchten.
Aus dem Augenwinkel heraus sah ich auf den letzten Metern mehrere Container auf einer Art Parkplatz stehen. Ich dachte mir nichts dabei, am ehesten vermutete ich eine Baustelle, bis ich später erfuhr, daß zwei Neuseeländerinnen, die ich noch kennenlernen sollte, darin übernachten mußten, weil die Herberge „completo“ war, belegt bis zum letzten Platz.
Wir gingen ohne Umwege zur Herberge, die aber noch geschlossen war; dennoch konnte man sich schon „einbuchen“ und seinen Laufzettel für die Zimmerzuteilung erhalten. Dann also noch mal mit dem Rucksack zur Casa Sabina, wo wir auf überdachter Terrasse bei Kaffee und Bier einen unwetterartigen Regenschwall bewundern konnten – und einen deutschen Bustouristen, der so unglaublich peinlich war. In dieser überheblichen Art machte er den Wirt halb in deutsch, halb in englisch an, weil der Eis in ein Glas gab, dann das Fläschchen Cola hineingoß. Er forderte, das Eis zu entfernen, wonach das Glas nur noch 2/3 voll war. Darauf dann: „Un nu mach des amol voll, hörscht?!“ Worauf er mit seinem Kumpel wieder sinngemäß loslegte, was das mit dem Eis für eine Abzocke sei, ohne jedoch zu realisieren, daß das Cola portioniert war, also nicht aus Hahn oder einer großvolumigeren Flasche kam. Zum Glück habe ich solche Tiefflieger unter den (deutschen) Pilgern nicht mehr erleben müssen. Halt, doch, da war noch einer. Später dazu mehr…
Am Abend erfuhr ich, daß John, Linda und Cathy mitten in den Regen gekommen waren, der im Grunde alle Pilger unterhalb Col de Lepoeder erwischte, die gegen 15 Uhr noch unterwegs waren. Sie waren bei Ankunft völlig durchnäßt und berichteten, daß der steile Weg unter diesen Bedingungen kaum gangbar gewesen sei.
Nach gut einer Stunde kehrten wir bei leichtem Regen zur Herberge zurück, also der neu renovierten im Haupttrakt der Abtei, und „sortierten uns“: Und wie es einem Pilger so ergehen kann, erlebte ich nun: Wir standen zu dritt Schlange vor den Duschen und als ich dran war, gab es nur kaltes Wasser, der Mann nach mir hatte aber wieder heißes… Daran gewöhnt man sich als Pilger – oder eben nicht und wird zum Hotel-Dauerbucher.
(Nebenbei: Für die kalte Dusche habe ich mich dann damit „entschädigt“, daß ich meine Wäsche dem Waschteam der netten, niederländischen Hospitaleros übergab, das diese gegen einen kleinen Obolus wusch und trocknete. Hospitaleros nennt man die Betreiber der Herbergen; die Niederländer machten dies hier freiwillig als Dienst am Pilger.)
Eine richtige Pause wollte ich nicht machen: ich erkundete die wenigen Häuser der Abtei, in der seit dem 12. Jahrhundert Pilger aufgenommen werden. Leider konnte ich weder die Santiago-Kapelle noch die Heilig-Geist-Kapelle betreten, dafür besorgte ich für Helga und mich Pilger-Menü-Karten in La Posada, das heißt, hier in Roncesvalles wird das abendliche Pilgermenü über Reservierungen abgewickelt, wohl weil es nur zwei Restaurants gibt. Hier habe ich im Memo zum ersten Mal Kenny aus Hongkong erwähnt, ein weitgereister, nun in den USA lebender, sehr sympathischer Mann. Wir verbrachten später in Pamplona etwas mehr Zeit miteinander, verpaßten uns dann immer wieder und letztlich auch in Santiago. Auch Dennis aus Holland habe ich hier zum ersten Mal getroffen, später dann ungefähr bis 3/4 des Gesamtweges immer mal wieder. Zur „Halbzeit“, mehr als 300 Kilometer weiter in Sahagún, haben wir einen halben Tag miteinander verbracht. Dennis führte ein unstetes Leben als Barkeeper – mal hier, mal da. Er war für mich wie ein Spiegel, in dem ich meine abgesicherte Lebensweise reflektieren konnte.
Zum Abendessen gab es leckere Forelle nach navarresischer Art. So ein Pilgermenü besteht meist aus einer Vorspeise (das können unter Umständen auch schon gut sättigende Spaghetti sein), dem Hauptgericht und einer Nachspeise (Eis, Flan (Karamellpudding), Gebäck…), wozu es oft Rotwein gibt. Die Qualität dieser Menüs variiert stark, der Preis liegt meist um 10-12€.
Wir saßen mit drei jungen Australiern am Tisch, die auf ihrer Europatour auch den Camino „mitnehmen“ wollten. Ich spreche auch in künftigen Beiträgen von „Pilger-Smalltalk“, also Gesprächen, die ich inhaltlich nicht wiedergeben muß, weil sie wenig Substanz jenseits des Gemeinschaftsaspektes hatten.
Im Anschluß stand in der Kirche mit der schönen, aus dem 14. Jahrhundert stammenden Marienstatue (Nuestra Señora de Roncesvalles) die Pilgermesse mit Pilgersegen an, an der ich unbedingt teilnehmen wollte. Ich verstand ein wenig von dem, was der Priester auf Spanisch sprach, nicht zuletzt, weil ich mir immer mal wieder spanische Messen über das Radio von RTVE angehört hatte. Der Pilgersegen wurde mehrsprachig gesprochen. Und doch war diese Messe auch ungewohnt für mich, weil ich nach dem Kirchenaustritt vor Jahren nicht mehr an einer solchen teilgenommen hatte – es sei denn, es wäre zum Beispiel anläßlich einer Hochzeit oder Beerdigung unumgänglich gewesen.
Mir tat die Messe gut, so einfach kann ich es ausdrücken. Sehr schön hat es Kolaczkowski-Bochenek (2016) formuliert:
„‘Die’ Messe, das Ereignis, das ich mit Furcht erwarte. Fünfundfünfzig Jahre lang hatte ich Gott den Rücken gekehrt. Jetzt will ich mich vor Ihn stellen und um Aufnahme bitten. Ja, die Geschichte vom verlorenen Sohn. Aber was für ein Recht habe ich überhaupt noch, um etwas zu bitten? Ich habe viel Mühe aufgebracht, mich zu verlieren, mich von Gott abzuwenden. Das habe ich aus eigener Kraft geschafft, sollte ich nicht aus eigener Kraft auch wieder zu Ihm finden?“
Viel gab es im Anschluß nicht mehr zu tun, so daß allgemein schon recht früh geschlafen wurde – auch weil das Licht im ganzen Gebäude um Punkt 22 Uhr ausgeschaltet wurde…
Diesmal schlief ich wesentlich besser als in den beiden vorherigen Nächten.
Noch kurz zur Herberge: Wer hier in Roncesvalles ankommt und die modern renovierte Unterkunft mit ihren „Vierer-Abteils“, Schließfächern, sauberen Duschen und der generalstabsmäßigen Abwicklung aller Dinge vorfindet und dann glaubt, das sei der Standard auf dem Camino, der wird enttäuscht (oder erfreut – je nach Präferenz) sein. Roncesvalles sticht mit einer modernen Variante heraus – oft findet man nichts Vergleichbares.
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2 Gedanken zu „Orisson bis Roncesvalles (CF8)“
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