Pamplona bis Obanos (CF11)

[Die Seite ist Teil des Berichts über meinen Camino Francés 2015.]

Es gibt Bilder vom Jakobsweg in Spanien, die hat man etliche Male während der Planung gesehen: die Weite der Meseta kurz vor einem steilen Abstieg hinter Castrojeríz, den Stausee von Portomarín, das Kirchlein von Eunate, vielleicht auch den Speichersee bei Logroño – und eben das Pilgerdenkmal auf dem Alto del Perdón, dem Berg der Vergebung. Heute würde ich beides sehen: Alto del Perdón und Eunate, aber es war ein langer Tag und Weg. Und an diesem Tag habe ich Peter aus Belgien kennengelernt, zu dem ich heute noch Kontakt habe, ja, der für mich ein Freund geworden ist.

Nur die Müllabfuhr war auf den Straßen, als wir beim typischen intensiv-gelben Licht der spanischen Straßenlaternen unseren Weg aus Pamplona heraus begannen. Am Morgen hatten wir wieder einen dieser „Rücksichtslos-Pilger“ erleben dürfen, der kurz nach 5 Uhr bereits laut mit dem Packen anfing. Gut, ich hatte ihn am Vortag gesprochen und war davon überzeugt, daß er psychisch angeschlagen war, so daß wir es ihm nachsahen. Burns (2013) spricht von den „predawn evacuees“: „These predawn evacuees are usually a select mix of those with a deadline for St. James and plain avid walkers, decked out in serious boots or European sandals and socks. Let no man interfere with their military regimen of miles.” So ein bißchen passe ich ja auch in dieses Bild: Morgens meist früh auf den Beinen, am frühen Nachmittag am Ziel.

Wir kamen am Busbahnhof vorbei, an dem ich vor knapp einer Woche angekommen war, gingen am weitläufigen Universitätsgelände mit parkähnlichen Grünanlagen entlang, bevor uns der Weg in Richtung Cizur Menor durch Felder führte. Ich sprach im Memo davon, welch ein schönes „Hinauslaufen ins Grüne“ dies gewesen sei und wie „rund“ es lief.
Dazu noch ein Scherz, der immer wieder so als running gag zwischen Helga und mir funktionierte: des Spaniers liebster Baustoff ist – Beton. Der Camino hier in Navarra ist teilweise mitten im Wald betoniert. Dorfplätze, bei uns eher schick gepflastert, sind oft eine reine „Betonplatte“.

Dann noch etwas zum schon erwähnten Wanderrhythmus. Ich hatte meine Vorbereitungstouren mit einem Freund gemacht, für den schnelle, kurze Schritte charakteristisch sind. Ihm hatte ich mich angepaßt, merkte nun aber auf dem Camino, daß ich weiterhin versuchte, diese Gehweise quasi aus der Tiefenerinnerung heraus (sagt man heute nicht „muscle memory“?) beizubehalten. Mehr und mehr merkte ich, daß es „unrund“ lief. Ich zwang mich zu größeren Schritten und langsamerem Gehen – und das half. Meine Geschwindigkeit habe ich dadurch etwas reduziert, aber das war mir völlig egal: ich ging meistens früh los und hatte keine Probleme, die Tagesstrecke zu schaffen. Man sieht, wie wichtig es ist, das eigene Schrittmaß und das eigene Tempo zu finden. Brent Plate (Plate 2016) schreibt, er wolle Sohlen und Seele wieder in Einklang bringen; mehrfach erklärt er, daß es nicht „Mind over Matter“, sondern „Matter over Mind“ heißen müsse: ruhiges Gehen bringt den Geist in einen entspannten Einklang mit der körperlichen Aktivität. Kein Multitasking, kein Hetzen – viele Autoren erwähnen diese positiven Auswirkungen langsamen Gehens auf Körper und Geist. Bennett (2013) spricht in seinem sehr empfehlenswerten Buch von der „hypnotic, (…) metronomic nature of walking“.
Ich fand meinen Rhythmus ungefähr ab der dritten Woche. Anekdote am Rande: Ein Amerikaner holte mich (weit später auf dem Weg) kurz vor Astorga ein, grüßte und meinte: „I know you!“ Ich schaute etwas verwirrt, weil ich ihn nicht kannte, da erklärte er: ich sei der große Mann mit blauem Rucksack, dünnen Stöcken und langen Schritten, der oft zum Fotografieren stehenbleibe. Schon aus einem Kilometer Entfernung habe er mich heute erkannt… 🙂

Cizur Menor wird als Endstation für die empfohlen, die nur durch Pamplona hindurchgehen wollen, ohne in der Großstadt zu bleiben. Für uns hieß es aber „weiter“, wir wanderten durch den Ort und weiter nach Zariquiegui, wo das Lädchen Tiendica de Mertxe ein Kombiangebot hatte: ein Bocadillo mit Belag der Wahl und eine Cola für 2,90€. Das kaufte ich mir; wir rasteten kurz vor dem Aufstieg zum Alto del Perdón. Die Landschaft hatte heute ein fahles Licht bei vielen tiefhängenden, grauen Wolken, obwohl es trocken blieb; die Äcker lagen braun oder mit verwelkten Sonnenblumen bepflanzt da. Kam dann noch eine Burgruine ins Bild, hatte die Stimmung etwas Mystisches. Kontinuierlich ging es nun längere Zeit bergan, eine der markanten Steigungen, die man sich vom Jakobsweg merkt.
Mir fiel eine kleine – ich vermute – Koreanerin mit pink-schwarzer Pudelmütze auf, die ich schon vor Tagen gesehen hatte. Immer lachte sie, war fröhlich. Ich sah sie noch in Santiago, ganz am Ende meiner Pilgerreise. Wir haben nie ein Wort miteinander gesprochen, uns aber lächelnd wie alte Freunde gegrüßt.

Starker Wind empfing uns auf dem Alto, trotzdem ergriff mich das Bild der mittelalterlichen Pilger mit ihren Eisensilhouetten. Alto del Perdón, um es nochmal aufzugreifen, war so ein „Gesamt-Camino“-Wohlfühlpunkt verbunden mit der Überlegung: wenn du da bist, hast du schon einige Kilometer hinter dir und es wird sich gezeigt haben, ob du fit für diese Unternehmung bist. Ich war fit und ich war offen für das, was kommen mochte. Ich fühlte mich in die neue Rolle als Pilger hinein. Codd (2008) schrieb: „Something fundamental is happening to me out here and I don’t have words for it either. Yet.” So empfand ich es auch.

Wir waren verschwitzt und kühlten trotz Jacken und Halstuch aus, so daß wir schnell etwas aßen und tranken (ich hatte mir die Coladose für hier oben aufgespart) und dann weitermarschierten.
Auch jetzt beim Abstieg auf der Westseite hatten wir das Gefühl, als liege eine besondere Stimmung über dem Land, ich kann es nicht in Worte fassen. Andersherum könnte ich mich fragen: war es nicht eher so, daß wir als Pilger entspannter wurden, in eine Routine verfielen und so auch das Gefühl für jeden persönlich entstand, „zum Land dazuzugehören“? Das Eintauchen in die oft mediterran wirkende Landschaft Navarras ist leicht. Hier sah ich zum ersten Mal in meinem Leben wilde Mandelbäume, Feigen, Quitten – wie überhaupt ganz viele Früchte am Wegesrand, an denen sich die Pilger bedienten. Apropos Navarra: an vielen Wänden belehrten uns Unbekannte, wir seien in „Nafarroa“, im Baskenland, gern auch mit „F*ck Spain“ verziert.

Uterga ist ein kleines schmuckes Dörfchen, das man kaum betreten und schon wieder verlassen hat – Durchgangsstation wie so viele Dörfer, deren Namen man schnell vergißt (und spätestens beim Audio-Memo am Abend in Verlegenheit gerät: ja, wie hieß das Kaff denn nochmal?!). In Muruzábal fanden Helga und ich eine schöne Herberge, aber … ich wollte ja unbedingt das Kirchlein von Eunate sehen. Würden wir nun in Muruzábal haltmachen, morgen dann die 10 Kilometer zusätzlich via Eunate laufen, wäre unsere Tagesetappe entweder 10 Kilometer länger oder wir müßten kürzen, wobei wir eigentlich bis Estella gehen wollten. Kurz und gut, wir diskutierten und ich sagte Helga, Eunate sei vielleicht doch nicht so wichtig, wir sollten einfach mal nach Obanos weitergehen. Gesagt, getan: die Herberge in Obanos empfing uns nach 22 Kilometern Tagesleistung. Schlicht eingerichtet, 36 Betten in einem großen Schlafraum, aber OK. Obanos ist im übrigen ein schönes Örtchen, in dem ich mich wohlgefühlt habe.
Nun kam mir der Gedanke, von hier aus die ca. fünf Kilometer bis Eunate zu gehen und mir die Kirche doch noch anzuschauen. Helga wollte mitkommen, also los. Auf dem Weg kamen wir an ganz viel wildem Fenchel vorbei – und das auch in den nächsten Tagen wieder. Wenn es einen Geruch gibt, der für meinen Camino insofern charakteristisch ist, daß ich damit das Pilgerdasein verbinde, dann Fenchel.

Eunate ist ein Kirchlein mit achteckigem Grundriß, das lange Zeit als Erbe der Tempelritter angesehen wurde. Es ranken sich viele Gerüchte darum, allerdings muß man heute wohl sagen, daß es eher eine Totenkirche neben einer nicht mehr vorhandenen Herberge gewesen ist. Um 1170 wurde das Gebäude errichtet; der achteckige Grundriß ist nicht ganz symmetrisch, die Außenmauer besteht aus 33 Bögen. Man kann viele Dinge über Eunate im Netz lesen, offenbar verbinden Menschen Besonderes mit diesem Ort. Manche sagen, man solle nur barfuß den Kirchenraum betreten, andere sagen, man solle die Kirche erst mehrmals umrunden, bevor man sie betritt. Der Name soll „gute Tür“ bedeuten, was ja vielleicht auf eine frühere Herberge verweisen könnte. Seit 1997 gibt es wohl eine „cofradía“, eine Bruderschaft von Eunate.

Wir kamen an und lasen, daß erst in gut 20 Minuten geöffnet würde. So schauten wir uns um, ich las Nachrichten im Internet und machte die schreckliche Entdeckung, daß man die Leiche der seit April vermißten amerikanischen Pilgerin Denise Thiem gefunden hatte… Ich habe Denises Schicksal in den Foren intensiv mitverfolgt, auch weil die „Pilgergemeinschaft“ bei der Suche geholfen hatte. Viele Monate lang blieb ihr Verschwinden mysteriös, so daß sogar vermutet worden war, sie wäre vor innerfamiliären Konflikten abgetaucht. Erst als die spanische Regierung die Hilfe der CIA erhielt, so hörte man, ging es voran und man konnte auch in Verbindung mit dem Leichenfund einen dem Vernehmen nach psychisch kranken Mann als vermutlichen Täter festnehmen. Er soll Denise mit falsch angebrachten gelben Pfeilen zu seinem Grundstück gelockt und getötet haben. Ich war geschockt von diesen Nachrichten, das ging mir nahe. (Der Festgenommene wurde später als Täter zu 23 Jahren Haft verurteilt.)
Wir saßen dann eine Viertelstunde in der Kirche, ich betete und spürte etwas, eine besondere „Schwingung“, die mich ergriff. Dafür kann ich keine Worte finden, es war eine Art Geborgensein, eine Faszination, die von den Augen, vom Blick der Marienstatue ausging. Im Audio-Memo, zu später Stunde vor dem Hintergrund des Glockenschlags der Kirche von Obanos aufgenommen, spreche ich davon, wie mich das Erlebnis in der Kirche überwältigt hat: erst macht „es“ dich still, dann fühlst du dich so angeregt, als würde in dir eine Veränderung stattfinden. Ich war glücklich und traurig zugleich – glücklich darüber, hier sein zu dürfen, und traurig über Denises Tod.

Im Hintergrund wurden leise Taizé-Lieder abgespielt. Zu kurz war ich hier, aber das war auch so ein Tribut an das Agreement mit Helga: sie war dezidiert wenig an den christlichen Traditionen und Orten des Caminos interessiert. Ich hätte in Eunate auch gut 2 Stunden verbringen können, aber am Ende wollte ich einen Kompromiß mit Helga haben. Ich mache nicht gerne Kompromisse, aber möglicherweise war das eine Lektion, die ich hier lernen sollte?
So schreibt auch Helen Burns (Burns 2013): „I had set out intending to walk alone with a kind of missionary zeal but slowly this is falling away.“ Und: “I wanted to walk the Camino alone and I did but I had not anticipated the laughter and the tenderness of friends.”

Vier Marienfiguren sind mir auf dem Camino in besonderer Erinnerung geblieben wegen ihrer … Schönheit? Hm, eher wegen der Ausstrahlung, die von ihnen ausging. Das war (hier) die Virgen de Eunate, die Maria in der Kirche von Los Arcos, eine hölzerne Statue aus dem 14. Jahrhundert im Kathedralen-Museum in León (benannt Calvario; aus dem Ort Gusendo de los Oteros nahe bei León) sowie eine Marienstatue in der Templerkirche Santa María La Blanca in Villalcázar de Sirga.

Mit dem Eunate-Abstecher hatte sich unser Tagespensum auf 33 Kilometer gesteigert, beachtlich. Am Abend gingen wir in eine typische Bar, in der zunächst keinerlei Pilger waren, dafür viele Einheimische. Nach dem Essen gefragt, meinte der Chef, heute sei Sonntag, es gebe kein Pilgermenü, wir könnten aber Tellergerichte wählen. Wir sollten etwas warten, bis die Küche öffne. Über das Warten kamen immer mehr Pilger – und plötzlich deckte die Hausherrin den Tisch ein, es gab eine Vorsuppe, dann Hauptgang und in toto ein – Pilgermenü. Das ist auch so typisch für Spanien: man hat ganz viel Zeit und wirkt entspannt. Wenn dann aber doch etwas „anbrennt“, wird erst in letzter Sekunde reagiert, aber dann auch richtig – also das typische „mañana“ mit dem Zusatz: „alles wird gut“.
Spannend: ich saß mit einem älteren Mann aus Oregon am Tisch, der seinerzeit Janis Joplin und Jim Morrison / The Doors live auf der Bühne gesehen hatte… Dazu ein gesprächiger Südkoreaner, und unsere illustre Runde war komplett. Diese Bar und diese Pilgerbekanntschaften – ein besonderer Abend auf meinem Camino.

In meinem später aufgenommenen Audio-Memo verband ich die Gedanken von Orisson: Glücklich kann ich sein, wenn ich mich und Gott finde. In der Menschenmenge bin ich eine isolierte Person, aber für mich bin ich doch in gewisser Weise der Wichtigste, nämlich im Hinblick auf mein Wohlergehen und mein Seelenheil. Ich formulierte es ungefähr so, daß ich hier auf dem Camino immer wieder etwas erlebe, das ich als Demut bezeichnen möchte. Und diese Demut öffnet sich nach außen, auf andere Menschen hin. Anders ausgedrückt mag es auch eine Rücknahme meines Ichs gewesen sein, auch wenn ich davon sprach, ich sei für mich der Wichtigste. Die Rücknahme des Ichs läßt Gott in den Vordergrund treten. Nach außen bildet sich das als die beschriebene Demut ab.
Das ist keine außergewöhnliche Weisheit, die ich da gefunden hatte, sondern etwas, das andere Pilger genauso erlebten, z.B. Codd (2008): „By this point in the march to Santiago, this spirit has seeped into our bones too and so here we are, being kinder than we’ve ever been in our lives, treating others as we would like to be treated, yes, even massaging one another’s feet.“
Mit der Etappe Pamplona – Obanos begann im Rückblick der Jakobsweg für mich erst richtig: die Waldetappen im Vorland der Pyrenäen mit ihrem Auf und Ab gingen über in Wanderungen durch weite Felder voller mediterranem Flair, immer in südwestlicher Richtung auf Logroño am Ebro hin.

Welch ein Tag! Und letztlich habe ich, wie schon erwähnt, Peter aus Belgien in der Herberge kennengelernt, der mit zwei Neuseeländern, Daphne und Keith, und seinem imposanten, selbstgemachten Pilgerstab aufkreuzte. Er sprach gut Deutsch, weil er in Deutschland lange Jahre gearbeitet hatte. Sein Weg hatte ihn schon von Lourdes über den Somport-Paß geführt – und genau hier, kurz vor Puente la Reina, führen die beiden Wege zusammen. Wir hätten uns nicht früher kennenlernen können, was in Verbindung mit der Tatsache, daß ich meinen allerletzten Abend in Santiago mit Peter verbracht habe und wir uns seitdem jährlich gesehen haben, schon eine Besonderheit ist.

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