[Die Seite ist Teil des Berichts über meinen Camino Francés 2015.]
Auch heute wieder früh los nach kurzem Frühstück in der Herberge. Es war stockdunkel und sehr kühl. Am Ortsausgang von Samos blieb ich bei einem Pilgerdenkmal stehen: über mir waren Mond, Venus und Mars nahe beieinander am Himmel zu sehen.
Weiter ging es entlang der Fahrstraße, erst dann wieder durch bewaldetes Weidegelände, immer noch deutlich hügelig und im frühmorgendlichen Dunst liegend. In der Ferne sah ich einzelne Gehöfte inmitten der Natur liegen, während ich hier im Wald ein völlig zerstörtes Anwesen passierte. Der Himmel färbte sich zartrosa, kurz bevor die Sonne über den Horizont kam. Galizien hat etwas, dachte ich, auch wenn ich nicht wußte, ob es mir dienlich sein würde oder nicht.
Dann ereignete sich die beim gestrigen Tag schon angesprochene Situation – in der Beschreibung völlig „harmlos“ und wenig beachtenswert: vor mir in ca. 25 Meter Entfernung lief plötzlich ein marderartiges Tier, dunkelbraun bis schwarz mit langem Schwanz, über den Weg, schnupperte hier und da, sprang herum und war wieder in den Büschen verschwunden. Ich war mir relativ sicher, einen (jungen) Fischotter gesehen zu haben. Kein anderer Marder ist so dunkel und hat diesen typischen, lang wirkenden Schwanz. Zudem war ein kleines Flüßchen direkt in der Nähe, und es gibt hier in Galizien definitiv Fischotter.
Gleich darauf hörte ich lautes Beten in fremder Sprache; um die Ecke hinter mir in ca. 50 Meter Abstand kam die litauische Pilgergruppe, die ich gestern schon bei ihrem „Einzug“ in Samos erleben durfte: Vorneweg eine Frau, die eine große Marienstatue trug, dahinter vier Männer, die ein gut zwei Meter langes Kreuz mit Jesusfigur auf den Schultern hatten, dazu drei oder vier Mann mit Fahnen – insgesamt um die 2o Personen in dieser Prozession, die fast unentwegt betete oder sang (und dann offenbar keine Bars aufsuchte, sondern geschlossen in den Wald kackte – sorry, aber harte Worte müssen so auch mal stehen). Ich sprach später einen der am Ende der Prozession gehenden Männer an: er sagte, sie trügen das Kreuz in „wechselnder Besetzung“ über gut 5000 Kilometer von Litauen bis nach Santiago. Die Gruppe wirkte schon am Vortag sehr konservativ. Lustige Episode am Rande: später am Tag war ich kurz vor den Litauern, stand an der für sie nicht einsehbaren Stirnseite einer Kapelle und schaute durch die Gitter der Tür ins Innere. Just als ich mich wieder zum Weg umdrehte, kamen die Litauer daher und fielen quasi vor mir auf die Knie und begannen zu beten. Hey, ich bin‘s, Brian, oder meint ihr die Kapelle?
So, jetzt muß ich diese für den Leser eher unscheinbaren Begebenheiten dieser beiden Tage miteinander verknüpfen, sonst erklärt sich das nicht. Ich sprach gestern vom Schamanismus. Bei dem Seminar, das ich vor Jahren besucht hatte, sollte versucht werden, für eine andere Person das „Krafttier“ zu holen. Ein Krafttier ist ein Geistwesen in Tiergestalt, das dem schamanisch Praktizierenden gut und hilfreich gesonnen ist, und zumeist in der sogenannten „Unterwelt“ (nicht als „Hölle“ zu verstehen) zu finden ist, wohin der Schamane meist in Trommelbegleitung eine sogenannte Geistreise macht. Die beiden Frauen, enge Freundinnen mit reichlich Erfahrung in, sagen wir, esoterischen Disziplinen, die für mich das Krafttier holten, fanden einen … Fischotter. Insbesondere die Frau, die aktiv schamanisch reiste, sagte, sie sei sich absolut sicher mit dem Tier, es habe sie quasi angesprungen, so als wollte es für mich gefunden werden. Ich habe mich seinerzeit damit ausführlich beschäftigt, mit den Attributen des Otters, der Lebensweise auf dem Land und im Wasser, habe selbst „Krafttierreisen“ mit Trommeluntermalung zu „meinem“ Krafttier gemacht und bin, wie soll ich das hier sagen, in eine „Beziehung“ mit diesem Geistwesen eingetreten. „Beziehung“ mag übertrieben sein, aber der Otter war als Tier für mich präsent. Dabei habe ich noch nie zuvor einen freilebenden Otter gesehen. Bis heute. Bis heute und hier in diesem Galizien, das mir meinen Frieden (man erinnere sich an den Spruch aus der Unterführung vor Logroño: „Inner peace comes after the war within.“) und die Klarheit meines bisherigen Pilgerweges raubte. Natürlich war bei mir sofort die Frage präsent: warum gerade jetzt ein Otter? War das eine Art Zeichen?
Und dann schaute ich genauer auf das konkrete Setting: örtlich vor mir dieser Otter, ich dann sozusagen in der Mitte und hinter mir die frommen Litauer, die mich mit ihrer übereifrigen Religiosität klar in den Schatten stellten (wäre es denn ein Wettbewerb). Warum erlebte ich beides hier auf so engem Raum: das schamanische Krafttier und ein wohl sehr konservativ, möglicherweise fundamentalistisch gelebtes Christentum? Warum stand ich so bildlich genau mittig zwischen diesen Polen? Klar, der nächste Gedanke mußte sich fast folgerichtig anschließen: du stehst exponiert in der Mitte, stehst da isoliert, weil du zu keiner Sache wirklich dazugehörst. Das mit dem Schamanismus, mit Naturreligion, hast du aufgegeben (und jetzt zeigt sich hier dein „Krafttier“, um dich zurückzurufen). Du bist aus der Kirche ausgetreten und für das Christentum zu wankelmütig, zu zweiflerisch und zu abschweifend in deinen Anstrengungen – da zeigen dir andere, wie es richtig geht… Noch ein Gedanke kam: Die Litauer repräsentieren meine Eltern und katholische Erziehung; die habe ich hier im Bild der hinter mir betenden Litauer „hinter mir gelassen“, also in der religiösen Hinsicht. Der Otter steht für das, was dann kam, das Naturreligiöse. Aber ist das etwas, das noch vor mir liegt? Ist die Rückwendung zum Christentum falsch? Und ganz fundamental: warum bin ich hier auf diesem katholischen Pilgerweg? Aber wenn ich da in der Mitte stehe, könnte das nicht auch bedeuten, daß eine Integration beider Bereiche (in meiner Person) möglich ist? Wie ist das mit dem „Urgrund“, von dem Willigis Jäger immer spricht? Aus diesem Urgrund entsteht jeder katholische Priester und jeder Amazonas-Schamane. Was gegensätzlich klingt, ist in Wirklichkeit nicht getrennt, weil aus demselben Urgrund stammend. Kann man dann nicht auch sagen, daß die im Schamanismus genutzten Techniken göttlichen Ursprungs – weil Teil der Schöpfung – sind? Wie auch die im Reiki genutzte Energie? Kann irgendetwas je außerhalb der Schöpfung stehen? Ich brauche immer Schubladen, brauche Namen für die Dinge, die ich mache. Aber Namen trennen, wie schon im Daudesching (Tao te king) steht (Schwarz 1988): „sagbar das Dau doch nicht das ewige Dau nennbar der name doch nicht der ewige name namenlos des himmels, der erde beginn namhaft erst der zahllosen dinge urmutter“
Aber, so sagte ich mir, das ist doch alles sehr weit weg vom „eigentlichen“ Christentum, vom Glaube an Jesus Christus, Sohn Gottes, der für uns Menschen gestorben und dann leiblich auferstanden ist. Und wenn ich einem katholischen Priester erzählen würde, daß ich Jesus tatsächlich einst auf einer schamanischen Reise in der „Oberwelt“ getroffen hatte (sic!), dann wäre da nicht mit Verständnis oder gar Interesse zu rechnen. Doch benötige ich „Verständnis“ von einem Vertreter „in Amt und Würde“ einer konkreten monotheistischen Religion? (Herr im Himmel, wenn ich mit Kirchenkritik anfange, kann ich gleich mit dem Taxi zum Flughafen nach Santiago vorpreschen…) Später in Sarria kam ich hierauf zurück und dachte über den Begriff der Einheit nach.
Otter vorne, Christen hinten – Einheit der Erlebnisse, Einheit heißt: nur ein Urgrund. Soll ich, so fragte ich mich, diese Lektion hier lernen, damit ich meine Zerrissenheit beilegen könnte? War das ein Einheitserlebnis für mich, das mich mit mir versöhnen soll? Zweifel blieben. An den kommenden Tagen ging ich immer wieder auf dieses Erlebnis ein und versuchte, es aus immer neuen Blickwinkeln zu sehen. Letztlich blieb ich bei dieser Deutung als Einheitserlebnis, als Vermittlung zwischen dem, was heidnisch-schamanisch in mir war, und dem, was sich wieder – nach so langer Zeit – mit dem Christentum befaßte.
Leider, so muß ich heute, da ich diese Zeilen schreibe, sagen, ließ ich mich damals von dieser intensiven Naturstimmung in Galizien „in Versuchung führen“ und mir den Geist verwirren. Nach Rückkehr vom Camino nahm ich das schamanische Trommeln wieder auf, las wieder vermehrt Bücher zum Thema, fühlte mich gut, bis… Bis ich am Neujahrsmorgen (2016) einen unglaublich intensiven Traum hatte, in dem eine Gruppe von Tauben aus der Luft auf mich herabgestürzt kam. Ich erwachte quasi bei deren Aufprall auf meinen Kopf aus dem Traum und hatte sogleich das Bild des Heiligen Geistes vor Augen und eine seltsam ergreifende, erfüllte Stimmung in mir. Das war nicht Galizien, das war „a team on a mission“, eine Rückholmission für den Gefallenen.
[Seit diesem 1.1.16 ist das Thema Schamanismus für mich nicht mehr aktuell. Die Schamanentrommel habe ich bei eBay verkauft. 2017 habe ich in meinem spirituellen Tagebuch noch einmal diese Ottersichtung und die Begleitumstände in einem mehrseitigen, ausführlichen Text analysiert. Inhaltlich kam ich nicht zu weiteren oder besseren Schlüssen, aber am Ende stand dieser Satz: „Du denkst mehr über den Otter nach, als du im Alltag an Gott denkst…“
Im April 2019 bin ich wieder in die katholische Kirche eingetreten.]
Zurück zum Camino: Bald mündete mein Alternativweg via Samos wieder in den regulären ein und nach einer Stunde war ich in Sarria angekommen. Zuvor hatte ich noch einmal die dänische Familie gesehen, die ich zuerst in Calzadilla de la Cueza getroffen hatte. Man saß wieder bei den Hausaufgaben. Sarria ist insofern ein besonderer Ort am Camino, als daß er 111 Kilometer von Santiago de Compostela entfernt liegt. Um die Pilgerurkunde, die Compostela, erhalten zu können, muß man wenigstens 100 Kilometer zu Fuß gepilgert sein, das heißt, hier in Sarria starten viele Pilger und insbesondere die touristischen Angebote fokussieren sich oft auf diese letzte Strecke bis zum Apostelgrab, da der Kunde ja die Urkunde erhalten soll. Dementsprechend voll bis überfüllt kann es nicht nur in Sarria bzw. den weiteren Orten bis Santiago sein, sondern auch unterwegs. Aber wenn man, wie ich, an einem Freitag durch Sarria geht, ist das alles kein Problem. Die Pauschalangebote starten überwiegend am Montag (Anreise am Wochenende vorher), bieten fünf Tagesetappen, so daß man am Freitag pünktlich zur Abendmesse in Santiago ankommt und am Wochenende wieder abreisen kann.
Sarria lag am heutigen Freitagmittag verlassen da; es waren kaum Menschen auf der Straße. Gleich am Ortseingang stand an einem Parkplatz ein Coca-Cola-Automat, der von den Motiven her auf den Jakobsweg ausgerichtet war. Er zeigte die letzten Städte bis nach Santiago wie an einer Perlenschnur aufgereiht. Jemand hatte mit Filzschreiber darauf geschrieben: The Disneyfication begins… (Ja, bei mehr als 300000 Pilgern 2017 – kein heiliges Jahr! – muß das wohl oder übel so sein…) In einem kleinen Touristenbüro am Ortseingang holte ich mir den Stempel, dann ging es an großen Hotelanlagen vorbei bis in den recht schmucken Ortskern, der von einer ansteigenden Straße (Rúa Maior, Rúa do Castelo) durchzogen wird, die unten mit einer langen Treppe beginnt. Bei herrlichem Wetter ging ich langsam die Straße hinauf, fand aber keine für mich passende Bar für einen kleinen Halt, obwohl es etliche gab. Auch die Kirchen waren verschlossen. Alle Zeichen standen auf „weiter!“.
Als ich einen hinkenden Pilger überholen wollte, sprach er mich an, ein Deutscher. Er wisse nicht, was mit seiner Hüfte los sei, aber er könne nicht mehr laufen. Jetzt sei er den ganzen „Norte“ heruntergekommen, um hier, 100 Kilometer vor Santiago, aufgeben zu müssen. Der Mann war sichtlich mitgenommen und suchte eine Unterkunft für die Nacht. So begleitete ich ihn bis zum Monasterio de la Magdalena, dem Magdalenenkloster mit Herberge. Wir verabschiedeten uns, ich wünschte ihm gute Besserung, hatte aber das Gefühl, nicht genug geholfen zu haben bzw. nicht genug helfen zu können. Das wurde mir insbesondere bewußt, als ich wenige Meter weiter gegenüber dem Friedhof an einer Wand den (mahnenden) Spruch las: „The Fellowship of the Camino“ – in Anlehnung an Tolkien. Ja, es gibt diese Gemeinschaft, aber wer aufgrund von Krankheit lange pausieren muß, der fällt zurück. Auf dem Camino bilden sich immer wieder Kleingruppen, zu denen man im Prinzip solange gehören kann, wie man mit dem Tempo der Gruppe mithalten kann. Will ich aufgrund einer krankheitsbedingten Pause diese Mitpilger wiedertreffen, muß ich zwingend mit Bus oder Taxi fahren. Und es erinnerte mich an Helga, die ich „zurückgelassen“ habe, obwohl sie selbst zurückbleiben wollte.
Hier hinter Sarria wurde es wieder grün; man muß nach Überquerung der Bahngleise über einen ansteigenden Waldweg Höhe gewinnen. Ich rastete noch einmal auf halber Höhe bei einer massiven Eiche, dann kamen die Häuser von Barbadelo in Sicht. Ich frage mich im nachhinein, warum ich an der Pensión-Albergue Casa Barbadelo vorbeigegangen bin; das ist eine schöne Anlage mit Swimmingpool.
Die staatliche Herberge mit dem äußeren Charme eines Gesundheitsamtes hatte noch Stunden geschlossen, also ging ich rechts vom Weg ab zur Casa de Carmen, einer privaten Herberge. Diese wird betrieben von Carmen und ihrem bereits mittags nach Alkohol riechenden Mann, der zudem etwas unwirsch bei der Geldherausgabe war – nicht jeder Pilger hat das Kleingeld immer passend in der Tasche. Mir wurde ein Bett in einem auf den ersten Blick sehr schön wirkenden Nebengebäude zugeteilt.
Auf den zweiten Blick sah ich sie: die Spuren von Bettwanzen – unübersehbar, massig. Mal ein bißchen in potentiellen Verstecken gesucht – schon hatte ich eine lebende Wanze herausgepult. Ok, dachte ich, was ist Plan B? Der wäre 7 oder 8 weitere Kilometer gewesen in der Hoffnung, in einer der kleinen Herbergen dort noch ein Bett zu bekommen. Ich hatte ungefähr 22 Kilometer hinter mir und wenig Lust aufs Weitergehen. Daher blieb ich, rückte mein Bett von der Wand ab, wählte ein oberes Bett – das sich als Fehlentscheidung entpuppte. Kurz sprach ich mit einer Dänin, weihte sie in die Problematik ein, aber auch sie hatte keine Lust, noch weiter zu laufen. Warum war das obere Bett eine Fehlentscheidung? Der Raum war mit Holz getäfelt, auch die Decke, das unglaublich viele Spalten hat. Die Wanzen lassen sich also einfach von oben, von der Decke herab auf die Betten fallen. (Ich hatte gelesen, obere Betten seien sicherer, weil die Wanzen von unten hochkriechen und möglicherweise beim „unteren Opfer“ blieben.) Würde ich eine Albergue betreiben, es gäbe nur einfache, geweißte Wände und Decken ohne Unterschlupfmöglichkeiten für ungebetene Übernachtungsgäste auf sechs Beinen.
Am nächsten Morgen hatte ich die typischen Bißspuren, kleine Rötungen, die wie eine Straße auf der Haut liegen. Das liegt daran, daß die Bettwanzen weiterkrabbeln, wenn sie nicht direkt Blut finden. Solche Rötungen „an einer Schnur“ sind typisch für Wanzenbisse. Ich hatte nie allergische Probleme oder ähnliches mit diesen Bissen. Sie juckten nicht mal, waren ein paar Tage sichtbar und verschwanden. Das war nicht das Problem, sondern daß man nie wußte, ob man Wanzen oder deren Eier in Kleidung oder Rucksack mit sich transportierte, somit zu deren Ausbreitung beitrug und sie im schlimmsten Falle auch mit nach Hause brachte. Im Grunde half nur eine Komplettreinigung der gesamten Ausrüstung. Es gibt Pilger, die dazu raten, nur Kleidung zu nehmen, die bei 60°C waschbar ist, weil bei dieser Temperatur die Eier absterben. Robin, die Pilgerkollegin aus Neuseeland, hat die Radikalkur erlebt: in Ruitelán sah ein Hospitalero ihre Bisse an der Hand und sagte klar: bleiben ja, aber nur wenn die ganze Ausrüstung gewaschen wird, wie oben schon beschrieben. Ich habe es so gehalten, daß ich zunehmend häufiger einen größeren Teil meiner (auch sauberen, nur im Rucksack mitgetragenen) Kleidung gewaschen und im Trockner getrocknet habe. Mehr dazu später.
Am Nachmittag saß ich im Außengelände, teilte meine Chips unfreiwillig mit dem Hund von Carmen und genoß die großartige Aussicht auf das Tal vor mir und die in der Ferne liegende galizische Fernstraße CG 2.2, die auf hohen Pfeilern über das Tal geführt wurde. Das Abendessen war gut, es gab unter anderem Fischsuppe. Auch nachts habe ich gut geschlafen, weil ich mich wohl in mein Schicksal ergeben hatte. Es regnete etwas, hörte aber im Morgengrauen auf.
Mittlerweile schaute ich auf die zwei Samos-Etappen (zum Kloster hin und von ihm fort) zurück als meine Schlüsseletappen auf dem Weg. Aus heutiger Sicht verstehe ich nicht, wieso ich mich so sehr darauf konzentriert habe, möglicherweise war es wirklich dieses Bedürfnis nach Einheit, nach dem Verbinden der Dinge, die in mir in Konkurrenz existieren, aber die ich immer als „Entweder-Oder“ behandele.
Manchmal glaubte ich, daß ich zwischen Navarra und León soviel auf dem Thema Einfachheit, Reinheit, Schlichtheit und Demut herumgeritten war, daß hier so ein Rückschlag programmiert war. Ich sagte mir: ich kann in einer Kirche eine Kerze aufstellen, einen Rosenkranz beten und später eine schamanische Reise unternehmen, das schließt sich nicht aus. Kritisch dachte ich am Nachmittag insbesondere über die Mystik-Literatur, die ich angesammelt hatte: Fakt war, ich hatte keine Lust, in ein so sprachlich antiquiert wirkendes Werk wie die Seelenburg von Theresa von Avila hineinzulesen. Die ganzen Standardwerke kauen das Thema wieder: Gott ist in der Tiefe des eigenen Innern zu finden, Gott ist Liebe. Aber man mußte das auch glauben – oder erfahren. Den (daoistischen) Urgrund, die daraus fließende ständige Veränderung konnte ich gut verstehen und als Lebensprinzip ansehen. Alles fließt, alles ist in Veränderung, entsteht und vergeht, aber wo kommt da der Begriff der Liebe zum Tragen? Wenn ich es also schaffe, im Hier und Jetzt präsent zu sein, dann müßte ich es schaffen, die negativen Energien, die mich erfassen, endlich abschütteln zu können. So komme ich weiter, sprach ich aufs Memo. Sorge dich nicht um die Dinge, die morgen gemacht werden müssen; empfinde die Einheit der Dinge und lege den Streit in dir selbst ad acta. Mache das, was du als richtig ansiehst: Rosenkranz oder Trommeln…
Jan van Ruysbroeck (1293 – 1381) schrieb: Wir können weder von Vater, Sohn und Heiligem Geist noch von irgendeinem Geschöpf sprechen, sondern nur von einem Wesen, das die ureigenste Substanz der göttlichen Personen ist. Vor unserer Erschaffung waren wir dort alle eins, denn es ist unser Grundlegendstes Sein. Dort existiert die Gottheit als einfaches Sein ohne jegliche Tätigkeit.
(Nachtrag 2020: Heute habe ich mehr zu diesem Thema verstanden, als damals an Verständnis in mir möglich war. Was aber auch bedeutet, daß Willigis Jäger nicht nur als Mensch verstorben ist, sondern auch meine Fixierung auf seine Sichtweise. Auch zweifle ich an der „Einheit der Wege“, denn aus dieser Sicht entsteht Beliebigkeit. Das Erlebte hat jedoch in mir selbstreflektive Klarheit erzeugt: heute schaue ich genauer hin, wenn ich wieder mal zu schwarz oder weiß tendiere und die Graustufen ignorieren will. Aber Graustufen heißt nicht, daß man zwangsläufig alles vermengen muß.)
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