[Die Seite ist Teil des Berichts über meinen Camino Francés 2015.]
Ich wachte früh auf, fühlte mich nach einer Nacht mit schlechtem Schlaf ziemlich geplättet. An einen intensiven Traum in englischer Sprache erinnerte ich mich lückenhaft, in dem eine Frau mir eindeutige Avancen machte, woraufhin ich sie mit einem „Look, I’m married“ barsch abwies. Und trotz der gelungenen Anreise gestern war ich doch irgendwie nervös – ohne Grund, aber das ist wohl etwas, das vielen Pilgern so geht: alles ist neu, eine völlig andere Lebenssituation als die, in der man noch vorgestern steckte. Oder sagen wir: eine neue Rolle im Leben, die Rolle als Pilger, die man noch nicht „spielen“ durfte.
Und dann ist man am Anfang einer Pilgerreise auch noch nicht so auf „Du-und-Du“ mit dem Rucksack. Während man zum Ende hin auch bei völliger Dunkelheit den kleinsten Gegenstand daraus hervorzaubern kann, hat man die Packreihenfolge (nicht fest geplant, sondern sich so ergebend) zu Beginn noch nicht so im Kopf. Vor dem Frühstück packte ich alles zusammen – und plötzlich fehlte etwas. Heute weiß ich nicht mehr, was es war, irgendein kleines Etwas, aber da kam kurz Panik auf… Natürlich lag das Teil „nur“ irgendwo drunter. Also dreimal tief durchatmen…
Ich habe für mich den Begriff des „Wohlfühlpunktes“ eingeführt. Das ist ein Zeitpunkt in der Zukunft, mit dem ich angenehme Erwartungen verbinde, die nach einer Zeit der Unsicherheit und Anstrengung liegen. Das ist jetzt nicht als in die Zukunft projiziertes Wunschdenken zu verstehen, nicht im Sinne ständiger Gedanken wie „wäre ich doch bloß schon da“, sondern genau das Gegenteil: Ich möchte im Hier und Jetzt leben, im Augenblick präsent sein, kann aber doch nicht immer alle Gedanken an das, was kommen mag, herausfiltern oder abweisen. So setze ich einen kleinen mentalen „Wohlfühlpunkt“, der im Grunde einfach nur eine Art Werkzeug ist, den ich mit Freude, Erleichterung und Erholung verbinde, ohne ständig über ihn nachdenken zu müssen. Als ich aufstand an diesem Morgen, war mein Wohlfühlpunkt die Ankunft in der Herberge Orisson, gut 8 Kilometer hinter St. Jean an der Nordflanke der Pyrenäen.
Für 7 Uhr war das Frühstück angesetzt – und ich merkte beim Betreten des Gemeinschaftsraums, daß ich nicht als einziger in ein wenig Hektik verfallen war. Jetzt erfuhr ich, daß Istvan neben mir noch John und seine zwei Begleiterinnen über die Grenze nach Frankreich fahren würde. Also gemeinsamer Start – schön!
Die Fahrt war durchaus „interessant“, weil unser Chauffeur den kleinen Wagen mit Verve über die kurvige Strecke navigierte. Ich konnte von der schönen Pyrenäenlandschaft nur wenig wahrnehmen, vor allem, weil sie von dichtem Nebel verhüllt wurde. Istvan fuhr uns gleich bis zur Porte St. Jacques, also dem Stadttor für alle von Norden und Osten eintreffenden Pilger direkt unterhalb der Citadelle. Man geht durchs Tor und steht in der etwas höher gelegenen Altstadt von St. Jean in der Rue de la Citadelle.
Schmucke Fachwerkhäuser, Blumen überall, saubere Straßen – hier bestaunt man das, aber in den kommenden Tagen wird man lernen, daß dies der typische „Look“ des Baskenlandes ist, so ein bißchen „Auenland“ inmitten der Separationsbestrebungen. Gerade im Bereich der Meseta (hinter Burgos) wird man krasse Kontraste zu dieser Aufgeräumtheit finden: alte verlassene, zum Teil verfallene Häuser, kaputte Tore und Fenster, bröckelnder Putz usw.
Ich war sehr ergriffen von diesen ersten Eindrücken in St. Jean, denn in der Vorbereitungszeit hatte ich „gefühlt“ Hunderte von Bildern dieser alten Gassen gesehen und nun stand ich mittendrin und vor dem „großen Start“. Im nachhinein besehen war das zu Beginn der Pilgerschaft eine große Überflutung mit so vielen Reizen – ich hatte gar nicht genug Zeit, alles tiefer sacken zu lassen. Ich glaube, es ist nicht falsch, am Startort der Pilgerschaft ein oder zwei Tage zu verweilen.
Um ein Haar wären wir am Pilgerbüro vorbeigelaufen: ich rief John und Co. zurück. Während Cathy und Linda sich die Route genauer in einfachem Englisch von der einzigen anwesenden Dame (morgens um 8:30 Uhr ist wohl noch keine Pilger-Rush-Hour) erklären ließen, wartete ich, schaute die Prospekte durch. Mich fragte die Dame, ob ich auch Infos und Pilgerausweis benötige. Ich verneinte, denn ich hatte den Pilgerausweis bereits von der Deutschen St.-Jakobus-Gesellschaft erhalten, so daß ich mir nur den Stempel von St. Jean geben ließ. Ich mußte auch keine umfangreichen statistischen Angaben machen: die Dame fragte mich nur nach der Nationalität. Man ist da vielleicht etwas vom Kerkelingschen Bericht (Kerkeling 2007) beeinflußt, da er angeblich nach seinem Beruf gefragt wurde und dies nutzte, um mit seiner Berühmtheit zu kokettieren. Ter Molen (Ter Molen o.J.) kritisiert Kerkeling dafür, aber ich wurde beispielsweise in Fisterra (2017) definitiv nach meinem Beruf gefragt.
In der folgenden Stunde erkundeten John, Cathy, Linda und ich St. Jean. Wir stiegen auf die Stadtmauer, sahen, wie der Nebel sich lichtete, einen blauen Himmel freigab. Wir besuchten die Kirche Notre Dame du Bout du Pont, wo ich eine Kerze zum Beginn meiner Pilgerschaft aufstellte. Ich mache so etwas selten in einer Kirche und habe auch nur zwei Kerzen auf meinem gesamten Camino aufgestellt: hier und im Kirchlein auf dem O’Cebreiro in Galizien. Ansonsten ist es gerade in Spanien auch meist so, daß es gar keine Wachskerzen mehr in den Kirchen gibt, sondern nur so eine Art „Setzkasten“ mit kleinen elektrischen Lichtern, die nach Geldeinwurf angehen und ein paar Stunden brennen…
Schnell kauften wir noch ein wenig zum Essen, bevor uns der Weg durch die Porte d’Espagne am anderen Ende von St.-Jean hinausführte.
Wir machten uns am Beginn des Aufstieges bereit, wie es nur „Erst-Pilger“ tun: Schuhe und Socken aus, Fußcreme auftragen, Rucksack anpassen usw. Im Rückblick denke ich mit einem Schmunzeln daran zurück – so vieles würde bald Routine werden.
Ein paar Worte zu Fußcremes: Generell gehen viele Pilger den ausufernden Diskussionen in den Internetforen zufolge davon aus, daß ein z.B. mit Hirschtalg eingecremter Fuß den Strapazen täglicher Wanderungen besser standhält. Ich hatte mich davon anstecken lassen, diverse Cremes ausprobiert und mich letztlich für Xenofit Second Skin entschieden. Ich muß dazu sagen, daß ich vorher keine Probleme mit der Kombination Gore-Tex-Innenfutter und Trekkingsocken von Falke hatte. Nun fühlten sich die Füße leicht feucht an durch die Creme, was auch dazu führte, daß ich glaubte, mehr in den Schuhen zu rutschen. Fakt ist, daß ich die Creme nur wenige Tage wirklich nutzte, dann mitschleppte und kurz vor León in einer Herberge für andere zurückließ. Ich habe dann nicht mehr gecremt und bin den gesamten Weg ohne eine einzige Blase gelaufen. Das sagt natürlich auch viel darüber aus, wie die Diskussionen in sozialen Medien Unsicherheiten schaffen, wo keine zu sein bräuchten.
Tagesziel für uns alle war die Herberge Orisson, die gern als Zwischenziel angepriesen wird, wenn jemand nicht die 25 Kilometer und ca. 1200 Höhenmeter (Aufstieg) bis Roncesvalles in einem Rutsch durchlaufen möchte oder kann. Orisson liegt auf ca. 900m und hat den großen Vorteil, daß man das steilste Wegstück dieser ersten Etappe – und damit auch gut 800 Höhenmeter – bereits hinter sich hat! Da ich in den Bergen immer mal wieder mit Knieproblemen zu kämpfen hatte, wollte ich „meinen Camino“ nicht gleich mit Streß beginnen: 500 steile Höhenmeter abwärts nach einem Aufstieg von 1200 – muß nicht. Also hatte ich vorab bereits mit Jacques, dem Betreiber der Herberge, Kontakt aufgenommen und gebucht. Heute ist es so, daß man buchen muß, um dort einen Schlafplatz zu bekommen, weil diese Variante immer beliebter geworden ist. (Aber das mit dem Vorabbuchen ist eine generelle, nicht so schöne Entwicklung auf dem Jakobsweg, wozu ich später noch etwas schreibe.)
Der Weg führte uns durch üppig grüne Felder, eine herrliche Landschaft, die ein wenig ans Allgäu erinnerte, wären da nicht die kahlen Höhen der Pyrenäen, die dieser Gegend ihren speziellen Reiz geben. Es wurde richtig warm. Wenn ich künftig von Temperaturen spreche, dann bitte im Hinterkopf behalten, daß ich kein Thermometer hatte, sondern oft nur schätzen konnte. Im Tal waren es heute sicher 25°C. Langsam stieg ich mit meinen Nordic-Walking-Stöcken bergauf und versuchte, in einen guten Rhythmus zu kommen. Das war nicht leicht, doch darüber werde ich in einem der nächsten Kapitel etwas schreiben. Meine amerikanischen Begleiter, alle meiner Schätzung nach bereits jenseits der 60, blieben bald im Schatten pausierend zurück, während ich langsam und stetig aufstieg. Es ist wirklich steil, aber man geht zumeist auf einer asphaltierten Fahrstraße, die man nur hinter Hunto kurz verläßt. Dort steht auch das große Schild, das angibt, ob der Weg über die „Route Napoleon“ (via Col de Bentarte, Col de Lepoeder – die Bergvariante) offen oder gesperrt ist. Überhaupt hat es den Anschein, daß man nach einigen, auch tödlichen Unfällen auf dieser Hochgebirgsstrecke mehr in Sicherheit investiert hat. Ich sah am folgenden Tag ein solarbetriebenes Notrufsystem und eine neue Schutzhütte ebenfalls mit Notrufmöglichkeit.
Wenn diese Strecke z.B. wegen Schnee gesperrt ist, bleibt dem Pilger nur die Valcarlos-Route entlang der Landstraße D-933 / N-135 – auch mit der Möglichkeit, in Valcarlos (Ort) zu übernachten. Da Istvan uns über diese Straße nach St. Jean gebracht hatte, kann ich nur sagen: das wäre nicht „mein Ding“…
Ich pausierte unter Bäumen an einer Weide, wo mich Kanadierinnen baten, Fotos von ihnen zu machen. Dann folgte ein Zickzack-Aufstieg, sehr steil, in vielen Pilgerberichten mit angsteinflößenden Worten beschrieben. Ich kam ordentlich schwitzend in Orisson an.
Voll war es – die gesamte überdachte Terrasse war mit Pilgern belegt, so daß ich mich in die Sonne setzte, Schuhe und Socken aus- und meine Badeschlappen anzog. Das war übrigens eine Entscheidung, die ich ganz kurz vor Abreise erst getroffen hatte: Ich wollte als Zweitschuhe normalerweise nur leichte Joggingschuhe mitnehmen, dann packte ich aber auch die Badeschlappen noch ein, die nur 300g wogen. Vorteil ist nicht nur der „schützende Untersatz“ in hygienisch fragwürdigen Duschen, sondern auch, daß die geschwitzten Füße nach der Tour schön trocknen können.
Aus dem Schankraum kamen immer wieder Leute mit Halbliter-Gläsern eiskalten Bieres heraus, also wurde es auch für mich Zeit, mal engeren Kontakt zum Personal zu suchen… Ich ging hinein und erklärte der jungen Frau in einfachem Französisch, ich hätte reserviert, wolle die Nacht bleiben und hätte im übrigen auch gern so ein leckeres Bier… Eins nach dem anderen, meinte die generalstabsmäßig die Pilgerscharen abwickelnde Dame: erst müßte ich das Bocadillo für morgen früh auswählen… Bocadillo ist vermutlich eines der meistbenutzten Worte unter Pilgern, das für belegte Baguette-Brote steht. Ich wählte eines mit Chorizo (grobe Paprikawurst). Im Anschluß führte mich die junge Frau auf mein (unser) Zimmer im hinteren Bereich des Hauses. Dann bekam ich auch mein Bier…
Zum ersten Mal begann ich nun die fortan tägliche Pilgerübung: zuerst geht man duschen, zieht frische Sachen an, dann wäscht man die zuvor getragene Kleidung und hängt sie zum Trocknen auf. Ich hatte ja nur zwei Slips und zwei T-Shirts mit, also immer eine Garnitur am Körper, eine in der Wäsche / im Rucksack. „Spezialisten“ duschen mit den getragenen Sachen und sparen sich so den separaten Waschgang.
Im Anschluß folgte der lange Restnachmittag, den ich im Garten hinter der Herberge verbrachte, der sich den Hang hinaufzieht, so daß ich über das Dach des Hauses hinwegblicken konnte. Um mich herum zirpten Grillen, über mir kreisten teils bis zu 15 Gänsegeier, die vermutlich schon mal den leckersten Pilger für morgen ausmachen wollten.
Ein Pilgerbüchlein hatte mir geraten, mich zu fragen, was die Sehnsucht ist, die mich zum Pilgern treibt. Diese Frage griff mir ans Herz, so daß mehrfach Tränen über meine Wangen liefen (sicher auch ein wenig der mich umgebenden Gebirgsszenerie geschuldet), während ich versuchte herauszufinden, welche Sehnsucht denn überhaupt noch jenseits der Alltagsbetriebsamkeit, dem Hamsterrad, in mir steckte. Gott, ja, natürlich, die religiöse, spirituelle Sehnsucht, das wiedergefundene (?) Christentum, aber da war doch mehr, oder? Und wenn nicht „mehr“, dann ausfüllender, erfüllender, eine Ganzheit?
Ja, letztlich kam ich zu dem Ergebnis, daß es wohl die Sehnsucht sein muß, mich „selbst besser leiden zu können“, mit mir besser umgehen zu können, also auch – wenn ich das heute so hinzufügen darf – zu prüfen, was mein ureigenstes Wesen ist und welche (passende oder unpassende) Rollen ich diesem im Alltag überstülpe. Hier oben – und mit diesem Ausblick über die Pyrenäen – fühlte ich Ruhe und Gelassenheit. Ich war heute Pilger geworden.
Ich sprach vor dem Abendessen noch mit John, der mir mitteilte, er sei methodistischer Pfarrer. Er schilderte seine Tätigkeit, ausführlicher jedoch die seiner Frau mit sozial benachteiligten Jugendlichen. Grob berichtete ich ihm meine religiösen Wege und Irrwege, woraufhin er mir versprach, in den kommenden Wochen für mich zu beten. Das berührte mich sehr, und ich dachte an den Tagen, die kamen, oft darüber nach, was es bedeutet, so für einen anderen Menschen zu beten.
Anders ein weiterer amerikanischer Mitpilger, der neben mir auf der Bank liegend barfüßig „Erdungsübungen“ machte und mir darüber bereitwillig Auskunft gab, gut, mir eher einen Vortrag hielt. Zwei Gesprächspartner, zwei Exemplare der bunten Pilgertruppe auf diesem Treck nach Westen.
Aus Internet-Videos kannte ich das gemeinsame Abendessen in Orisson, bei dem es immer eine Vorstellungsrunde gibt. Man steht auf, sagt, woher man kommt und – wer möchte – noch etwas über sich. Es gab in der Gruppe von ca. 40-50 Leuten außer mir nur zwei Deutsche sowie einen vor Jahrzehnten nach Argentinien ausgewanderten. Ganz viele Amerikaner und einige Neuseeländer, Menschen aus Japan, aus Brasilien, Korea – und der Älteste in unserer Runde, ein 85jähriger Italiener. Süß das japanische Paar: er Buddhist, sie Christin. Er hatte ihr bei der Hochzeit versprochen, daß er mit ihr einmal den „christlichen Pilgerweg“ in Europa gehen würde – und jetzt waren sie hier zusammen in Südfrankreich. Nach dem Essen ging ich draußen noch einmal ein bißchen auf und ab, als noch ein deutscher Jungspund mit Riesenrucksack vorbeikam. Ob er jetzt noch im Dunkeln diese Bergstrecke machen wolle, fragte ich. Ja, er habe eine gute Lampe und nicht so viel Zeit – seine Freundin erwarte ihn in Deutschland zurück, es sei besser, er gehe nun weiter…
Bald legte ich mich in mein Bett voller Vorfreude auf Roncesvalles, denn das sah ich – auf spanischer Seite der Pyrenäen liegend – als den eigentlichen Startpunkt meines Caminos an.
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