Seit 2011 sind im Berliner Verbrecher-Verlag die Tagebücher Erich Mühsams erschienen; die Reihe wird aktuell mit dem 15. Band abgeschlossen. Mitherausgeber Chris Hirte hier im Interview mit dem Deutschlandfunk.
Schlagwort: Erich Mühsam
1900 – P. Michalzik – Kurzrezension
Fangen wir zunächst damit an, daß Titel und Untertitel ein wenig irritieren: man geht davon aus, eine Beschreibung der aufkommenden Lebensreformbewegung um die vorletzte Jahrhundertwende vor sich zu haben, de facto ist das Buch aber auf die Kolonie auf dem Monte Verità am Lago Maggiore fokussiert. Dennoch ist der Titel nicht ganz abwegig, da viele Details rund um den Hauptstrang der Erzählung die Lebensreform allgemein beschreiben.
Auf den ersten ca. 30 Seiten fand ich es schwer, in einen Lesefluß zu kommen, da der Autor kollagenartig verschiedenste Personen und Orte verknüpft und ständig zwischen ihnen wechselt. Da springt man mit Gerhart Hauptmann von dessen Begegnung mit dem Wanderprediger Johannes Guttheil zu Nietzsches bevorzugter Schinkensorte… Doch Michalzik schafft es, die Stränge wieder zu bündeln, Beispiel von Seite 24: „Tolstoi, Nietzsche, Hauptmann, Guttzeit, sie alle berühren eine Idee (…), die größer ist als sie.“ „1900 – P. Michalzik – Kurzrezension“ weiterlesen
Missratene Söhne (C. Kosuch)
Im Vandenhoeck&Ruprecht-Verlag ist das Buch „Missratene Söhne. Anarchismus und Sprachkritik im Fin de Siècle“ von Carolin Kosuch erschienen. In der Dissertation der Autorin von 2014 werden drei Männer beschrieben: Fritz Mauthner, Erich Mühsam und Gustav Landauer. Bei Sehepunkte gibt es eine aktuelle Rezension zum Buch.
Buch: Monte Verità (Stefan Bollmann)
Es gibt ein neues Buch über den Berg der Wahrheit, im Oktober ist es bei der Deutschen Verlagsanstalt erschienen. Laut Beschreibung auf Amazon erzählt der Autor, Stefan Bollmann, „auf der Basis neuer Quellen die Geschichten hinter den Legenden“. Es sei ein „mitreißendes Panorama der Gegenkultur, ein Fest des Lebens wie des Erzählens“. Das klingt gut, allerdings scheinen die bisherigen vier Rezensenten auf Amazon das nicht so zu teilen. Zwei davon werfen dem Autor vor, zu oberflächlich und unstrukturiert zu schreiben, quasi „fleischlose Kost“ im übertragenen Sinne zu liefern. Eine Rezensentin verweist darauf, daß Mühsams „Ascona“ sowie Landmanns Buch die bessere, weil besser geschriebene Wahl seien. Möglicherweise ist das auch ein typisches Merkmal des Autors, das ich in Ermangelung eigener Lektüre von ihm nicht beurteilen kann. Sein Buch über Goethe wird auf der Verlagsseite auch als „charmante wie leichtfüßige Besichtigung von Goethes Leben“ bezeichnet. Vom Titel her auf eine ähnliche Bearbeitung des Themas läßt z.B. auch das Buch „Frauen, die lesen, sind gefährlich und klug“ schließen.
Die taz berichtete gestern über das Buch. Dort wird hervorgehoben, daß Bollmann die Biographien der Eigentümer / Besucher gut herausarbeitet. Lediglich die Vergleiche zu späteren Subkulturen blieben etwas blutleer bzw. plakativ.
Sich frei machen, um frei zu leben
Mühsam in Meiningen (Tagung, Ausstellung)
Erich Mühsam in Meiningen – Meiningen und seine Anarchisten
Ausstellung vom 17.5.-27.9.2015 / Tagung 11.-14.6.15
Von Ascona bis Eden
Die Erich-Mühsam-Gesellschaft Lübeck gibt eine Schriftenreihe heraus, deren Heft 27 mir durch Zufall bei Ebay aufgefallen ist.
Das 160 Seiten starke, 2006 erschienene Büchlein informiert über ‚Alternative Lebensformen‘ (Untertitel), wobei Mühsams eigene Broschüre „Ascona“ Ausgangspunkt ist und bereits die ersten 40 Seiten beansprucht. Dieser Text war wohl auch eine Grundlage der 2005er Tagung der Mühsam-Gesellschaft, auf der man sich neben Ascona auch mit Eden, Worpswede / Barkenhoff sowie Gustav Landauers Siedlungsidee befaßte.
Mühsams kurzweilige, 1905 erstmals erschienene Beschreibung Asconas ruft ein lebendiges Bild des Ortes und seiner Bewohner hervor. Natürlich schildert der von den Nazis ermordete politische Aktivist Ascona auch „durch seine Brille“: „Hier weiß das Volk, dass eine Befreiung von allem Staats- und Kirchendruck nur möglich ist durch das Einsetzen jeder einzelnen Persönlichkeit, durch Verweigerung der Arbeitskraft – durch den Auszug auf den heiligen Berg.“
Doch mit allem, was Mühsam sah, war er nicht einverstanden, manches kommentiert er spöttisch. Berühmt wurde sein „Gesang der Vegetarier – Ein alkoholfreies Trinklied„. Carl Gräser, Lotte Hattemer, Elly Lenz, Baron Alexander von Rechenbach-Linden sowie Johannes Nohl werden ausführlicher vorgestellt. Für Mühsam ergibt sich das Fazit, Ascona sei prädestiniert „zu einer Sammlungsstätte solcher Menschen, die infolge ihrer individuell gearteten Veranlagung ungeeignet sind, jemals nützliche Mitglieder der kapitalistischen menschlichen Gesellschaft zu werden.“
Für ihn ist Ascona Zufluchtsort, ein Ort, an dem man menschenwürdig leben kann, auch wenn man dazu alkoholfreie Trinklieder singen muß.
Das Buch umfaßt dann noch Christoph Knüppels Vortrag über Landauer mit Vorstellung einiger „Anarchisten in der Obstbaukolonie Eden“ (Carl Tomys, Friedrich Lisowski, Alfred Starke). Gerhard Semper, Vorstandsvorsitzender der Eden-Genossenschaft von 1998 – 2005, sprach über „Eden – eine lebendige Idee (? oder !)“; Ernstheinrich Meyer-Stiens stellt Heinrich Vogeler vor; Siri Hølmebakk geht auf das Schulprojekt Tvind in Dänemark ein; Kirsten Larsen Mhoja gibt eine kurze Einführung in den Freistaat Christiania (1971 – 2005).
(Gerade wenn ich Christiania lese, muß ich an mein Studium zurückdenken, in dem ich mich u.a. mit Methoden der Sozialarbeit befaßt habe. Eine Methode, die Arbeit mit Kollektiven, heißt Gemeinwesenarbeit, seinerzeit ein Schwerpunkt für mich. Und die Gemeinwesenarbeit wurde als „Miljö“-Arbeit gerade in Dänemark geprägt. Auch die Arbeitersiedlung Eisenheim hat mich damals fasziniert.)
Im Buch folgt Stephan Kürles Vorstellung eines Jugendzentrums „Die Alternative“ in Lübeck, den Abschluß bildet ein interessanter Text über den Arzt Karl Strünckmann (1872 – 1953). Der Autor Oliver M. Piecha untersucht das „Weltbild eines deutschen Diätarztes“ und gibt „Anmerkungen zum Verhältnis zwischen Lebensreform und völkischem Fundamentalismus“. Zitat: „Strünckmann folgte Zeit seines Lebens den oft irritierenden und verschlungenen Pfaden deutscher Sinnsuche zwischen Kritik an der industriellen Moderne, lebensreformatorischen Experimenten und einem unbändigen Wunsch nach spiritueller ‚Ganzheit‘.“
Heft 27 der Mühsam-Gesellschaft ist eine kostengünstige Möglichkeit, sich über Siedlungsprojekte sowohl der Lebensreformzeit als auch modernen Ablegern zu informieren. Im Auge sollte man dabei behalten, daß der Schwerpunkt politisch deutlich „links“ bis anarchistisch liegt.
Ich will alleine über die Berge gehn (Mühsam)
Ich will alleine über die Berge gehn,
und keiner soll von meinen Wegen wissen;
denn wer den Pfad zu meinen Höhn gesehn,
hat mich von meinen Höhn herabgerissen.
Ich will alleine über die Berge gehn,
mein Lied soll ungehört am Fels verklingen,
und meine Klage soll im Wind verwehn; –
nur wer dem eignen Herzen singt, kann singen; –
nur wer dem eigenen Herzen klagt, kann klagen;
nur wer das eigne Herz erkennt, kann sehn. –
Hinauf zu mir! Ich will der Welt entsagen,
und will alleine über die Berge gehn.
[Erich Mühsam]