Neue Bücher (5)

Neue Bücher sind eingetroffen, dazu eine engbeschriebene Postkarte aus dem Jahr 1924 mit dem Fidus-Motiv „Beichte„. In kleinster Schrift mit feinem Federstrich hat da ein Mann (?) geschrieben: „Mein liebstes Märchen bist Du!“ Ich muß noch versuchen, weitere Passagen des schwer lesbaren Textes zu entziffern.

Dann ist da die Biographie von Gustav Landauer von Rita Steininger, untertitelt „Ein Kämpfer für Freiheit und Menschlichkeit“. Landauer, Vertreter eines libertär-utopischen Anarchismus hat Zeit seines Leben schwere Schicksalsschläge einstecken müssen, bis er schlußendlich am 1. Mai 1919 in der JVA Giesing mißhandelt und ermordet wurde. „Ich habe mehr durchgemacht, als meinen Jahren zukommt, und fast mehr, als ein Mensch ertragen kann.“ Trotzdem blieb er Pazifist. In diesem Buch steht der persönliche Werdegang im Vordergrund, nicht das politische Werk. Die Autorin hat präzise gearbeitet und die Fakten in einen sehr gut lesbaren Stil verpackt. Wird nicht mein letztes Buch von/über Landauer. „Neue Bücher (5)“ weiterlesen

Missratene Söhne (C. Kosuch)

Im Vandenhoeck&Ruprecht-Verlag ist das Buch „Missratene Söhne. Anarchismus und Sprachkritik im Fin de Siècle“ von Carolin Kosuch erschienen. In der Dissertation der Autorin von 2014 werden drei Männer beschrieben: Fritz Mauthner, Erich Mühsam und Gustav Landauer. Bei Sehepunkte gibt es eine aktuelle Rezension zum Buch.

Von Ascona bis Eden

Die Erich-Mühsam-Gesellschaft Lübeck gibt eine Schriftenreihe heraus, deren Heft 27 mir durch Zufall bei Ebay aufgefallen ist.
Das 160 Seiten starke, 2006 erschienene Büchlein informiert über ‚Alternative Lebensformen‘ (Untertitel), wobei Mühsams eigene Broschüre „Ascona“ Ausgangspunkt ist und bereits die ersten 40 Seiten beansprucht. Dieser Text war wohl auch eine Grundlage der 2005er Tagung der Mühsam-Gesellschaft, auf der man sich neben Ascona auch mit Eden, Worpswede / Barkenhoff sowie Gustav Landauers Siedlungsidee befaßte.

Mühsams kurzweilige, 1905 erstmals erschienene Beschreibung Asconas ruft ein lebendiges Bild des Ortes und seiner Bewohner hervor. Natürlich schildert der von den Nazis ermordete politische Aktivist Ascona auch „durch seine Brille“: „Hier weiß das Volk, dass eine Befreiung von allem Staats- und Kirchendruck nur möglich ist durch das Einsetzen jeder einzelnen Persönlichkeit, durch Verweigerung der Arbeitskraft – durch den Auszug auf den heiligen Berg.“
Doch mit allem, was Mühsam sah, war er nicht einverstanden, manches kommentiert er spöttisch. Berühmt wurde sein „Gesang der Vegetarier – Ein alkoholfreies Trinklied„. Carl Gräser, Lotte Hattemer, Elly Lenz, Baron Alexander von Rechenbach-Linden sowie Johannes Nohl werden ausführlicher vorgestellt. Für Mühsam ergibt sich das Fazit, Ascona sei prädestiniert „zu einer Sammlungsstätte solcher Menschen, die infolge ihrer individuell gearteten Veranlagung ungeeignet sind, jemals nützliche Mitglieder der kapitalistischen menschlichen Gesellschaft zu werden.“
Für ihn ist Ascona Zufluchtsort, ein Ort, an dem man menschenwürdig leben kann, auch wenn man dazu alkoholfreie Trinklieder singen muß.

Das Buch umfaßt dann noch Christoph Knüppels Vortrag über Landauer mit Vorstellung einiger „Anarchisten in der Obstbaukolonie Eden“ (Carl Tomys, Friedrich Lisowski, Alfred Starke). Gerhard Semper, Vorstandsvorsitzender der Eden-Genossenschaft von 1998 – 2005, sprach über „Eden – eine lebendige Idee (? oder !)“; Ernstheinrich Meyer-Stiens stellt Heinrich Vogeler vor; Siri Hølmebakk geht auf das Schulprojekt Tvind in Dänemark ein; Kirsten Larsen Mhoja gibt eine kurze Einführung in den Freistaat Christiania (1971 – 2005).
(Gerade wenn ich Christiania lese, muß ich an mein Studium zurückdenken, in dem ich mich u.a. mit Methoden der Sozialarbeit befaßt habe. Eine Methode, die Arbeit mit Kollektiven, heißt Gemeinwesenarbeit, seinerzeit ein Schwerpunkt für mich. Und die Gemeinwesenarbeit wurde als „Miljö“-Arbeit gerade in Dänemark geprägt. Auch die Arbeitersiedlung Eisenheim hat mich damals fasziniert.)
Im Buch folgt Stephan Kürles Vorstellung eines Jugendzentrums „Die Alternative“ in Lübeck, den Abschluß bildet ein interessanter Text über den Arzt Karl Strünckmann (1872 – 1953). Der Autor Oliver M. Piecha untersucht das „Weltbild eines deutschen Diätarztes“ und gibt „Anmerkungen zum Verhältnis zwischen Lebensreform und völkischem Fundamentalismus“. Zitat: „Strünckmann folgte Zeit seines Lebens den oft irritierenden und verschlungenen Pfaden deutscher Sinnsuche zwischen Kritik an der industriellen Moderne, lebensreformatorischen Experimenten und einem unbändigen Wunsch nach spiritueller ‚Ganzheit‘.“

Heft 27 der Mühsam-Gesellschaft ist eine kostengünstige Möglichkeit, sich über Siedlungsprojekte sowohl der Lebensreformzeit als auch modernen Ablegern zu informieren. Im Auge sollte man dabei behalten, daß der Schwerpunkt politisch deutlich „links“ bis anarchistisch liegt.