Villalcázar de Sirga bis Calzadilla de la Cueza (CF24)

[Die Seite ist Teil des Berichts über meinen Camino Francés 2015.]

Meine Knie fühlten sich am heutigen Morgen gut an, also wieder frisch und ohne Frühstück los in Richtung Carrión de los Condes. Der Weg im Zwielicht des anbrechenden Tages war einfach zu gehen: immer gerade entlang der Straße auf einem Kiesweg. Beim Gehen sprach ich das Audio-Memo für den vorherigen Tag auf und man hört darin meine knirschenden Schritte in der Stille um mich herum.

In einer Bar mitten in Carrión traf ich Dennis aus Holland wieder, der Besuch aus Schweden gehabt hatte. Ein Bekannter, mit dem er eventuell ein Bar-Projekt starten wollte, war nach Carrión gekommen, hatte Dennis für zwei Tage in ein Luxus-Hotel eingeladen, wo man die Sache besprechen wollte.

Auch Clara und Novi kamen bald an der Bar an und wollten noch ein Bild mit mir machen, das wirklich witzig aussieht, weil ich die beiden kleinen Frauen um 50 bis 60cm überrage…

Wir sind dann zu dritt einen Teil des weiteren Weges gegangen.
Hier in Carrión de los Condes gibt es das Klarissinnenkloster Santa María del Camino, dessen Namen nicht so in Erinnerung bleibt, dafür wohl eher das Bild „Nonnen mit Gitarren“. Es ist eine Donativo-Herberge, in der vor oder nach dem gemeinsamen Abendessen in großer Runde gesungen wird. Mehrere Personen berichteten mir auf späteren Abschnitten des Caminos, wie toll dieser eine Abend gewesen sei. Ich habe hier nicht übernachtet, weil Carrión ja für mich ein „Durchmarschort“ am frühen Morgen war. Ich war mir aber auch später angesichts der Berichte von anderen nicht sicher, ob ich das gewollt hätte, dieses Setting der Singing Sisters. Eher negativ sprach ich in einem Audio-Memo vom „Bespaßtwerden“ auf dem Camino, was natürlich so salopp gesagt dem gemeinsamen Singen und Beten nicht gerecht wird. Vielmehr wollte ich wohl zum Ausdruck bringen, daß für mich nicht das Happening im Vordergrund stand, sondern das Stillewerden. Übertrieben ausgedrückt: nicht der Weg zu den anderen Menschen, sondern der hinein in mich selbst. Beides braucht man, zweifellos. Gerade in dem, was ich bereits zur Demut geschrieben habe, wird deutlich, wie die Öffnung auf Gott hin auch immer eine Öffnung auf andere Menschen hin bedeutet. Ich meinte aber „Gemeinschaft“, nicht „Happening“.
So sprach ich mit Clara auf dem Weiterweg darüber, daß ich noch keine so wirklich spürbare Veränderung an mir bemerkte, die ich direkt auf den Camino zurückführen konnte. Das war natürlich wieder, sagen wir, Lamentieren auf hohem Niveau, denn selbstverständlich sah ich Veränderungen an mir, davon habe ich hier ja schon ausführlich berichtet, aber wie das so oft bei Wassermann-Geborenen ist, soll es gleich der Himmel sein, wenn man auch nur auf einen Turm steigen könnte. Das spürte Clara wohl und meinte, ich solle alle Erfahrungen hier einfach erst einmal sacken lassen. Warte, meinte sie, die Veränderung kommt, wenn du wieder zuhause bist!
So auch Burns (2013): „The real Camino begins at home.“
Wahre Worte, kann ich nur aus heutiger Perspektive sagen. Der Camino hat mich verändert, aber das Ausmaß der Veränderung zeigte sich erst in den Jahren danach.
Es ist so, daß man auf dem Camino trotz der langen meditativen Wegstrecken den Kopf nicht immer frei hat, obwohl ich das weiter oben ja so beschrieben habe. Man ist auf so viele Dinge fixiert: Wo bekomme ich ein Bett? Was tut da im Bein weh? Verstärken sich die Schmerzen? Was man lernen muß, ist warten, aushalten. Denn vor das Finden eines Bettes hat der Camino einen langen Tagesmarsch gesetzt. Und heute gehe ich so mit Dingen im Alltag um: ich sage mir, mache alles Schritt für Schritt, überhaste nichts, lerne, wie man auch unangenehme, aber zeitlich begrenzte Situationen gut aushalten kann. Es ist wieder das „Im-Augenblick-Sein“, das man lernen sollte, aber auch noch etwas Weiteres:
Mein Lieblingsautor, was Camino-Memoiren angeht, Bill Bennett (2013), befaßte sich auf seinem Camino intensiv mit dem Thema Angst. Es war immer die im Raum stehende Frage, was wohl alles noch passieren könne, die ihn hemmte. Er schreibt: „As soon as I figured out what was the worst that could happen, my anxiety disappeared. Because in facing the worst outcome and realizing I could handle it, my fear disappeared. For so long, before the Camino, I’d lived in fear. (…) What’s the worst that can happen? This became my mantra – a reminder that the worst wasn’t that bad after all.”
Das Schlimmste, das passieren kann in so einer Situation: man muß vielleicht mal eine Nacht draußen schlafen. Oder unter dem Vordach einer Kirche. Bennett entwickelte im Laufe seines Caminos sein „PGS“ (angelehnt an die Abkürzung GPS): sein Personal Guiding System, nichts anderes als seine Intuition und sein Bauchgefühl, die ihm sagten, wie er richtig handeln solle. Gleichmütig im Augenblick präsent sein und auf seine Intuition hören – so funktioniert das mit dem Camino.

Am Ende von Carrión findet sich noch ein sehr schönes Pilgerdenkmal: in einer Krippendarstellung ist die Heilige Familie zu sehen, vor der sich, etwas tiefer, ein Pilger mit Rucksack und Stab niederkniet. Clara kommentierte das mit: „That says it all why we’re here.“

Der weitere Weg ist eine der bekanntesten Strecken auf dem Camino, denn es ist die singulär längste Strecke ohne Bar oder Übernachtungsmöglichkeit: 17 Kilometer zwischen Carrión de los Condes und Calzadilla de la Cueza. Die Strecke verläuft entlang einer alten Römerstraße. Absolut flaches Land um mich herum, blauer Himmel mit zum Nachmittag hin immer mehr Schichtwolken, abgeerntete Felder, weißer Kies auf dem Weg – monotones Gehen.

 

Nachteil dieser baumlosen Etappe: Wenn denn mal nur so etwas wie ein kleines Gebüsch kommt, ist dessen wegabgewandte Seite mit Papiertüchern / Toilettenpapier stark verschmutzt. Das sieht man selbst dann, wenn die letzte Bar (nicht konkret auf diese Strecke bezogen) nur einen Kilometer zurückliegt, wo man schließlich die „servicios“ hätte nutzen können.

Ich habe nicht speziell aufgesprochen, was mich in dieser Zeit des Gehens beschäftigt hat, aber ich konnte erkennen, daß es voll war (Samstag, also viele Wochenendpilger aus Spanien) und vermutlich auch mein Zielort, Calzadilla de la Cueza, entsprechend voll sein würde (wegen der langen Strecke, die dort ihr Ende fand).
Dort angekommen, stieß ich sogleich auf die beiden Herbergen am Ortsrand, die direkt nebeneinander liegen. Rechts die „Municipal“, links die private, die doppelt soviele Pilger aufnehmen kann.

Ich entschied mich für Letztere, trat ein und wurde auf meinen Gruß hin gleich vom Hospitalero angefaucht: „Reservado?“ Nö, habe nicht reserviert… Also dann, sagte er, jetzt Schuhe aus und ins Anmeldezimmer kommen! Oha, hier wurde strenges Regiment geführt. Mir und dem gleichzeitig mit mir angekommenen nettesten Mitglied der franko-kanadischen Gruppe sagte er dann, es gebe nur noch die oberen Betten, die unteren seien alle reserviert… Ich fragte ihn explizit wegen eines unteren Bettes, da die Stockbetten hier keine Leitern hatten und ich befürchtete, mir mein Knieproblem zu verschlimmern. Nix zu machen, oberes Bett oder woanders suchen… Nur wer reserviert, so der „Spieß“, bekomme bei ihm ein unteres Bett. Aha… Später dann fand ich heraus, daß die gesamte obere Etage, der zweite Schlafsaal mit 40 Betten, unbelegt war – und reserviert für Spanier.
Sodann wurden wir zu unserem Bett geführt, das heißt, es waren zwei Stockbetten, die aneinander gerückt waren, weil unten ein (italienisches?) Paar schlief – und der Kanadier und ich wurden somit oben auch zum „Paar“ mit Doppelbett – herzerfrischend…

Dennoch, das Hochsteigen über die Stirnseite des Bettes ging leichter als gedacht. Grundsätzlich war für mich eher das Herunterkommen ein Problem, insbesondere morgens, wenn der Körper von der Nacht steif war. Ich machte dann erst ein paar Steckübungen auf dem Bett, bevor ich mir beim Heruntersteigen noch einen Krampf im Bein holen würde.
Dieser Tag war nicht „meiner“, das merkte ich bald. Obwohl ich nun angekommen war, ein Bett hatte, nervten mich die Umstände, also das „Doppelbett“, die klare Bevorzugung der spanischen Gäste, die engen Duschen und Toiletten, ja, man konnte sich nicht einmal (als großer Mensch) normal auf die Toiletten setzen, weil die Kabinen so klein waren, daß zwischen Knie und Tür gefühlt 3,2cm Platz waren. Ich bekam den Eindruck, hier wird Abzocke in großem Maß betrieben: 40 Leute in einen Saal, möglichst kleine, behelfsmäßige Sanitäranlagen. Und noch einmal: es ist ärgerlich, wenn die Hospitaleros diesen Reservierungswahn nicht nur mitmachen, sondern auch noch fördern, indem sie fürs Reservieren Boni geben: untere Betten, spezieller Schlafsaal.

Nun gut, ich setzte mich in den Garten, der sogar mit Swimmingpool ausgestattet war, nachdem ich geduscht hatte. Eine richtige Waschmöglichkeit für Kleidung fand ich nicht, so daß ich die getragenen Sachen zum Lüften auf die Leine hing. Da kam „mein Belgier“ Peter wieder mit seinem schweren Stab an. Er sah sehr müde aus und ich konnte später erkennen, daß beide Füße über große Flächen mit Tape verklebt waren, offenbar litt er massiv unter Blasen. Wir haben miteinander gesprochen und vereinbart, später gemeinsam zum Essen zu gehen. Derweil ging ich in den grauen Ort, in dem kaum etwas los war, um in einem Mini-Geschäft etwas zu essen und Duschgel zu kaufen.

Das Pilgermenü gab es im einzigen Restaurant des Ortes, das einen riesigen Speisesaal für die Pilger hat. Mehrere Bedienungen arbeiteten die hungrigen Pilger schnell und aufmerksam ab. Neben Peter und mir saß eine dänische Familie, die mir vorher schon aufgefallen war, als die Kinder im Pool spielten. Man grüßte sich, sprach ein paar Worte mit den Fünfen (2 Jungs, vielleicht 9 und 12, sowie ein Mädchen von ca. 14 Jahren). Der Vater, ein durchtrainiert wirkender Mann mit blondem Bart, war im vergangenen Jahr bereits auf dem Camino Francés gewesen, was ihn so beeindruckt hatte, daß er beschlossen hatte, mit seiner ganzen Familie wiederzukommen. Dafür erhielten die Kinder schulfrei, aber die Eltern mußten „homeschooling“ sicherstellen, das heißt man sah die Kinder immer wieder mit Schulheften bei „Hausaufgaben“ und ähnlichem.
Peter erzählte mir an diesem Abend, daß er schwer krank sei und nun dauerhaft starke Medikamente nehmen müsse. Sein Leben, so verstand ich, hinge am seidenen Faden: solange die modernen Medikamente, die er zum Glück bekommen konnte, ihre Arbeit taten, war alles gut – bis auf die Nebenwirkungen. Aber, welche Wahl hat man in so einer Situation? Peter, 55 Jahre alt, habe ich an diesem Abend als einen „Super-Kerl“ kennengelernt, wie ich später empathisch meinem Audio-Memo anvertraute. Und: sein Schicksal rückte meine Perspektive zurecht: ich merkte wieder, wie „unverschämt gut“ es mir doch ging. Und immer nörgelte ich (vor allem im Alltagsleben), und keiner konnte es mir recht machen. Ich sollte mir selbst einen Arschtritt geben, wenn ich den Begriff aus meinem Memo hier so wiedergeben darf.
Ich sagte mir: werde bescheidener, denke positiver, dann wirst du glücklicher werden.
Als wir den Speisesaal verließen, war es dunkel geworden und ein Gewitter zog in einiger Entfernung an uns vorbei. Wir machten uns für die Nacht fertig, die die unruhigste werden sollte, die ich auf dem Camino erlebt habe, was am schon erwähnten Samstag und den vielen Spaniern lag, die Party machten. Einer von denen ist nachts aus einem oberen Bett gefallen und hat auf dem Boden weitergepennt. Morgens fand ich Erbrochenes im Waschbecken und die Veranda sah wie ein veritables Schlachtfeld aus. Das ist kein Pilgern in meinem Sinne und ich war froh, als ich von diesem Ort fortgehen konnte.

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