Villambistia bis Atapuerca (CF19)

[Die Seite ist Teil des Berichts über meinen Camino Francés 2015.]

Die Nacht wurde so, wie man es bei kleinem Raum mit gut 20-30 Schläfern erwarten kann: neben mir (leider nicht nur örtlich zu verstehen) schnarchten mehrere Leute sehr laut. Hinzu kam, daß ich an die tote Bettwanze dachte und nicht wußte, ob hier heute nacht welche aktiv sein würden. Ich war zur Sicherheit auf ein Stockbett mitten im Raum, oberes Bett, umgezogen, aber das sollte später in Barbadelo auch kein Schutz sein: die Bettwanzen lassen sich zielgenau von der Decke auf die Schläfer fallen…
Ab 5 Uhr mußte ständig jemand auf die Toilette, ab 6 wurde gepackt.
Frühstück nach dem Motto „da ist eine Bohne ins Wasser gefallen“ gab es eher auf dem Flur und im Stehen, soll heißen, ich trank schnell etwas, packte mir etwas zum Essen ein und verzog mich mit meinem ganzen Kram nach draußen auf eine Bank neben dem Brunnen, wo ich mich im Schein der Laterne sortierte, die Schuhe anzog und wieder durch den schlafenden Ort zur Streckenführung des Jakobsweges zurückging.

Auf dem Weg nach Villafranca Montes de Oca kam ich an den Ruinen des Klosters San Félix de Oca aus dem 6.-8. Jahrhundert vorbei, die nur aus einem rechteckigen (Rest-) Turm bestehen. Manchmal ging es mir so, wenn ich an so vielen geschichtsträchtigen Orten vorbeikam und deren spezifische Stimmung in mich aufnehmen wollte, daß es schlichtweg zuviel wurde und ich einfach vor den Überresten stand und dachte: ein paar alte Steine, nun ja… Vielleicht war ich heute auch nicht in „historischer Stimmung“, denn ich freute mich auf den langen, dem Vernehmen nach atemberaubend schönen Weg über den Höhenzug hinter Villafranca und bis nach San Juan de Ortega.
In Villafranca erwachte gerade das Leben: einige Pilger frühstückten an so einer Art Truck-Stop, wieder andere kamen aus „herrschaftlichen“ Gästehäusern und luden ihr Gepäck in Taxis, während die leichten Tagesrucksäcke lässig an den Zaun gelehnt wurden. Es ging nun steil empor durch Eichenwald, immer wieder mit herrlichen Weitblicken über das Hügelland ringsherum. Diese „Gänseberge“ sind der nordwestliche Ausläufer der Sierra de la Demanda, quasi zwischen Villafranca und mein Ziel von übermorgen, Burgos, geschoben. Einmal auf der Höhe (immerhin bei ca. 1100m), geht es auf geraden, oft recht breiten Kieswegen weiter – ein wirklich landschaftlich herausragendes Stück des Jakobsweges.

Weniger schön, historisch und menschlich gesehen, ist das Monumento de los Caídos, das an gut 300 erschossene Widerstandskämpfer gegen General Franco erinnert. Eine schon recht alte Tafel mahnt: Unnütz war nicht ihr Tod, unnütz war ihre Erschießung.
Ich hatte zwei Dinge in meinem Rucksack, die definitiv in Spanien zurückbleiben würden: einen kleinen Schieferstein für das Cruz de Ferro auf einem späteren Wegabschnitt und einen kleinen Talisman in Form eines Engels, den mir die Nachbarn zu Hause als Glücksbringer geschenkt hatten. An diesem Denkmal, so fand ich, war der richtige Platz, um den kleinen Engel zurückzulassen.

Da auf diesem Höhenzug gerade die Radpilger in Hochstimmung (und -geschwindigkeit) waren, ein paar Worte zu alternativen Formen des Pilgerns. Man kann auch mit dem Rad fahren, was wohl gerade bei Spaniern und Italienern beliebt ist. Meine Erfahrungen mit Radpilgern sind sehr unterschiedlich. Fakt ist, die meisten haben entweder keine Klingel oder benutzen sie nicht. Während die Fußpilger sich in den ersten Tagen nach Roncesvalles noch ein enthusiastisches „Buen Camino!“ zurufen, wann immer ein (vermeintlich) Gleichgesinnter in der Nähe ist, ebbt dieses Grüßen auf die Länge des Caminos gesehen ab. Später grüßt man einfach nur mit Hola oder Hi. Nur die Radpilger sind da eine Ausnahme, die ihre fehlende Klingel durch laute „Buen Camino“ (im Sinne von „Weg da!“) Rufe wettmachen. Wenn sie denn rufen… Mir kamen beim Aufstieg nach Foncebadón (vermutlich lokale) Mountainbiker entgegen, die einen schmalen Pfad herabrasten, auf dem Pilger mühselig aufstiegen. Solch eine Taktlosigkeit war jedoch selten.
Dann kann man auch mit Pferden oder Eseln / Maultieren pilgern. Ich sah aber nur zwei Esel mit dazugehörenden Pilgern, die in einem Fall an einem Rastplatz gezeltet haben, was eigentlich nicht erlaubt ist, aber wohl geduldet wird. Es gibt auch Pilger, die ihren Hund dabeihaben, aber egal ob Rad oder Maultier oder Hund: mich würde das alles dadurch, daß man sich „kümmern“ muß, vom eigentlichen (besinnlichen) Pilgern abhalten. Und ich erlebte auch, daß sich bei Hunden die Pfoten durch die ungewohnt langen Laufstrecken entzündet hatten.

San Juan de Ortega ist ein Kloster aus der Zeit um 1150. Der Namensgeber lebte von 1080 bis 1163 und war einer der Pioniere und (Brücken-) Baumeister auf dem Jakobsweg, Schüler von Santo Domingo (de la Calzada, genannt „Ingenieur des Caminos“); sein Sarkophag steht in der Kirche, die bei mir einen ähnlich intensiven Eindruck wie Eunate hinterließ, auch wenn ich heute nicht lange verweilen wollte. In einem Café setzte ich mich zu Robin, trank eine Cola und aß etwas, ging aber zügig weiter, auch weil ich möglichst allein gehen wollte.

Weites, offenes, fast steppenartiges Land – ein Vorgeschmack auf die Meseta – durchquerte ich auf staubigem Weg, dann noch eine Weile entlang der Fahrstraße – und ich war in Atapuerca, Fundort des Homo Antecessor. Das ist der Urmensch, der hier vor gut einer Million Jahren lebte. Die Sonne brannte vom Himmel und wenn ich mich umschaute, dann war ich einfach glücklich: ja, das war „nur“ als mein Jakobsweg geplant, de facto hatte ich seit zwei Wochen bestes (südländisches) Urlaubswetter…

Ich checkte in der Herberge El Peregrino ein, die einen schönen Garten mit vielen Sitzgelegenheiten hatte. Wieder die gleiche Routine: duschen, waschen, Wäsche aufhängen, Pause. In mein Zimmer kamen dann noch fünf Schweden, die offenbar mit einer organisierten Tour unterwegs waren und nur bis Burgos pilgerten – es war ihr letzter Tag. Ein bißchen Smalltalk, dann entschied ich mich, mal durch den Ort zu gehen. In einer Bar trank ich ein Bier und sprach mit einem Franzosen, dessen Mutter aus Spanien stammte. Das ist praktisch: wenn ich mal ein Wort nicht wußte, konnte ich es entweder in Englisch, Spanisch oder Französisch versuchen – irgendwas würde schon passen. Er ermutigte mich, mehr Spanisch zu sprechen, einfach drauf los, was ich dann gleich im Anschluß in einem kleinen „Tante-Emma-Laden“ ausprobierte. Ich sagte der Verkäuferin, ich wolle mir ein Bocadillo selbst machen: welchen Käse, welche Wurst würde sie empfehlen? Das war eine tolle Erfahrung: ich konnte das einfache Gespräch ganz in spanisch führen. Besondere Anerkennung erhielt ich dafür, daß ich die Banane nicht banana nannte, was auch geht, sondern plátano.

Im Garten der Herberge sprach ich eine Weile mit Joe, dem Sohn der irischen Familie aus Grañon, Rechtsanwalt, wie ich später erfuhr. Es ging um religiöse Fragen und ich erzählte ihm, daß ich mich mein bisheriges Leben lang als Suchender gesehen hatte, aber das Finden so schwer gewesen sei. Daß mich diese Suche viel Energie koste, mich oft deprimiere, daß ich Irrwege gegangen war, jedoch glaubte, hier auf dem Camino Antworten zu „erahnen“, wenn ich nicht „finden“ sagen wollte. Joe meinte, ich solle doch einmal darüber nachdenken, ob ich nicht schon längst gefunden hätte. Wir mußten das Gespräch abbrechen, aber der Satz hallte in mir nach.

Dazu bin ich später über das schöne Tolstoi-Zitat (2012) gestolpert:
„Ich lebe doch, wirklich lebe ich doch nur dann, wenn ich ihn (Gott, V. Wagner) fühle und ihn suche. Warum also suche ich noch? rief eine Stimme in meinem Innern. Er ist also. Er ist das, ohne das man nicht leben kann. Gott wissen und leben ist ein und dasselbe. Gott ist das Leben.“

Joes Eltern fragten später, ob ich mit zum Essen kommen wolle, aber ich hatte mir für heute abend alles eingekauft, das ich morgen nicht schleppen wollte, so daß ich ablehnte – auch so eine Entscheidung, die ich aus heutiger Sicht vermutlich nicht mehr treffen würde. Vielleicht lag es auch ein wenig daran, daß ich den Vater, Shamous, sehr streng wirkend fand, geradlinig, oder auch hartherzig? Ich kam mit ihm dennoch Tage später noch ins Gespräch.

In einem Flur in der Herberge hing folgendes Gedicht, dessen Autor nur mit Juan angegeben war, das mir sehr gut gefiel. Ich gebe es im Original wieder (Copyright „Juan. En memoria de Mr. Carroll (17/05/2010)”):

Voy conmigo, con mi mochila,
Con mi sombra, con mi silencio
Y mi soledad.
Con mis pies, con mi cabeza
Y con mi alma.
Voy con mi amigo, voy conmigo,
Y mis pasos me huelen a LIBERTAD.

Meine Übersetzung:
Ich gehe mit mir, mit meinem Rucksack,
mit meinem Schatten, mit meinem Schweigen
und meiner Einsamkeit.
Mit meinen Füßen, mit meinem Kopf
und mit meiner Seele.
Ich gehe mit meinem Freund, ich gehe mit mir,
und meine Schritte duften nach FREIHEIT.

Bei mir wurde vor allem der Kopf frei auf dieser Fernwanderung durch das nordwestliche Spanien, was ich in einem der nächsten Beiträge ein wenig ausführlicher beschreiben werde.

Morgen also Burgos… Viele Pilger überspringen die ganzen Vorstädte und Industriegebiete, indem sie mit dem Bus ins Zentrum fahren. Ich hingegen wollte unbedingt den „Parque fluvial“ finden, also den Weg, der parallel zu den Vorstädten durch eine Parklandschaft am Río Arlanzón vorbeiführt. Diese „Umgehung“ wird in den einschlägigen Führern ausführlich beschrieben. Es war auch klar, daß ich in Burgos keinen Ruhetag einplanen würde. Nach 20 Kilometern Hinweg hätte ich genügend Zeit, um mir die Kathedrale anzusehen, wenn ich einen Platz in der städtischen Herberge direkt nebenan finden würde.

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