Wege aus der ‚transzendentalen Obdachlosigkeit‘

Das war eine Überraschung gestern! Eigentlich wollte ich nur ein wenig im Tagungsband Unweit von Eden blättern, der die (gescheiterten) Bemühungen um die Einrichtung eines Museums der Lebensreform im Fidus-Haus dokumentiert. Da fand ich dann einen „Cogito ergo credo“ betitelten Beitrag von Justus H. Ulbricht, der genau das Thema aufgreift, über das ich schon so lange etwas lesen wollte: neue religiöse Formen abseits der christlichen Kirchen im Rahmen der Lebensreform mit Stichworten wie Sakralisierung des Körpers, Lichtgebet oder Neu-Gnosis. Herrlich! Jetzt habe ich wieder soviele Literaturangaben… 

Es ist ja schon komisch, daß es noch kein Werk gibt, das sich mit genau dieser Religiosität befaßt. Daß sich im Doppelband „Jahrhundertwende“ von Nitschke / Ritter / Peukert / v. Bruch eben kaum etwas zum Thema Religion findet, ist mir auch schon aufgefallen. Ich habe dann hier noch Nipperdeys „Religion im Umbruch“, da wird jenseits der beiden Hauptkirchen nur am Rande etwas zu „säkularem Glauben“ und „außerkirchlicher Religiosität“ gesagt, was dann auch sehr auf völkische, neugermanische Religiosität fixiert ist.
Daneben habe ich von Rudolf von Delius das Bändchen „Die Verklärung der Körpers“ von 1924, das die Reihe Schöpferische Mystik im Carl-Reißner-Verlag eröffnete und in dem der Autor „aus der Funktion unseres Körpers selber (…) das Geistliche ableiten“ will. Vor dem literarischen Hintergrund des Autors ist dies schon ein Werk, das sich in die diversen anderen, die Ulbricht im erwähnten Artikel nennt, einreiht. Zum Thema „Herz“ ein kurzes Zitat:
„Hört diesen Trommelschlag der Seele. Er ruft euch wach: ein neuer eigener Anfang zu sein. Beginnt wirklich das Leben! (…) (H)orcht auf das Herz und bildet daraus die Musik der Persönlichkeit.“

In den umfangreichen Band „Lebensreform und Esoterik“ von Bernadette Bigalke, den ich zu Weihnachten geschenkt bekam, habe ich mangels Zeit noch nicht intensiv hineinschauen können.

Ausgangspunkt für Ulbrich (o.e. Beitrag) ist, daß das Bildungsbürgertum sich zu Anfang des 20. Jahrhunderts „weniger christlich, aber weiterhin religiös verstand“. Es formten sich Sinnsuchbewegungen, die u.a. „innerweltliche Erlösung“ anstrebten, also nicht auf den transzendenten Gott und die Erlösung nach dem Tod setzten. Mit längerem Zitat findet sich Friedrich Schöll („Vom Lebensglauben“), demzufolge das Leben göttlich sei und man daneben nichts zweites vermuten dürfe, das göttlicher sei. Vorstellungen von einem unpersönlichen Gott oder dem „göttlichen Leben“ brachten pantheistische, lebensphilosophisch beeinflußte Elemente in die Lebensreform.
Der Bezug auf das Licht, auf Luzifer, den Lichtbringer, führt eine neu-gnostische Sichtweise (Hell-Dunkel-Kontrast) ein; auch die Gralssuche wurde wieder als Thema aufgegriffen.

Alles in allem ein spannender Artikel, der den Horizont erweitert. Ich werde mir den Text noch einmal in aller Ruhe durchlesen, Literatur herausschreiben und v.a. (und zuerst) nach Werken von Friedrich Schöll und Georg Lomer suchen.

(Die Überschrift geht auf Georg von Lukács zurück, „Die Theorie des Romans“.)